Süddeutsche Zeitung

Europaparlament:Ursula von der Leyen rückt deutlich in die Mitte

  • Ursula von der Leyen hat in einer halbstündigen Rede im Europaparlament dafür geworben, zur ersten Chefin der EU-Kommission gewählt zu werden.
  • Sie versprach den Abgeordneten unter anderem, den Klimawandel ambitioniert zu bekämpfen und dem Europaparlament das Initiativrecht zu geben, so dass diese Gesetze einbringen können.
  • In der Plenardebatte melden sich 80 Abgeordnete zu Wort, doch in Bedrängnis gerät die CDU-Politikerin nicht.
  • Die Abstimmung beginnt um 18 Uhr, das offizielle Ergebnis gibt es frühestens um 19 Uhr.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb, Straßburg

Ursula von der Leyen ist erst seit zwei Wochen auf Twitter aktiv, aber die Kandidatin für die Spitze der EU-Kommission und ihr Team nutzen das Medium sehr effektiv. Um 7:33 Uhr erinnert die CDU-Politikerin an die Französin Simone Veil, die vor knapp 40 Jahren als erste Frau zur Präsidentin des Europäischen Parlaments gewählt wurde.

Gut eineinhalb Stunden später nennt sie im Straßburger Plenarsaal zu Beginn ihrer wohl wichtigsten Rede Veil erneut als Vorbild und freut sich, dass nun endlich eine Frau Kandidatin für den Job des EU-Kommissionspräsidenten sei.

Die scheidende Bundesverteidigungsministerin sagt diese Sätze auf Französisch und setzt die erste Botschaft: Trauen sich die Abgeordneten wirklich, gegen eine Kandidatin zu stimmen und einen Schritt mit enormer Symbolwirkung zu verhindern? Schnell wechselt von der Leyen ins Deutsche und schwärmt davon, dass heute 500 Millionen Europäer in Wohlstand und Freiheit leben würden.

Aber es sei wieder nötig, für dieses Europa zu kämpfen, denn Digitalisierung, Überalterung und vor allem der Klimawandel seien Herausforderungen, die vielen Bürgern Sorgen bereiten würden. Europa dürfe nicht mit Protektionismus oder autokratischen Tendenzen reagieren, sondern müsse geschlossen auftreten: "Wenn wir im Inneren einig sind, kann uns niemand von außen spalten."

Mindestens 374 Stimmen braucht Ursula von der Leyen, um Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker zu werden, und dass sie bis zum Beginn der Abstimmung um 18 Uhr alles tun will, um neben Sozialdemokraten und Liberalen auch einige Grüne für sich zu gewinnen, wird schnell klar. Schon nach fünf Minuten gibt sie als Ziel aus, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dies solle auch in einem Klimagesetz festgeschrieben werden, verspricht sie.

Dies ist neu, danach folgen viele Punkte, die sie bereits tags zuvor in zwei mehrseitigen Briefen an die Sozialdemokraten und die Liberalen von Renew Europe beschrieben hat. Von der Leyen will, dass die Schadstoffemissionen bis 2030 "um mindestens 50 Prozent" sinken (im Vergleich zu 1990).

Bislang hatten sich die EU-Staaten nur auf 40 Prozent einigen können. Zusätzlich zu dem nun ausgegebenen Ziel will sie innerhalb der ersten 100 Tage einen "New Green Deal" auflegen, wie sich sogar 55 Prozent einsparen ließen - so ambitioniert war die eigene Europäische Volkspartei (EVP) bisher nicht. Sie spricht sich dafür aus, Emissionen so zu besteuern, dass sich das Verhalten der Bürger ändert.

Von der Leyen will weiter für mehr Fairness kämpfen

"Was gut für den Planeten ist, muss gut für die Menschen sein", sagt von der Leyen, die ihre Rede stehend hinter einem durchsichtigen Podest vorträgt. Ein "Just Transition Fund" soll den Bürgern in jenen EU-Ländern helfen, für die die Transformation ihrer Wirtschaft schwierig wird. In Europa, so sagt die Kandidatin, lasse man niemanden zurück.

Ausführlich spricht die Christdemokratin über den Kampf für mehr Fairness, der sie stets angetrieben habe - etwa als Familienministerin, die in Deutschland Elternzeit durchgesetzt habe. Dazu gehöre auch, internationale Konzerne dazu zu zwingen, angemessene Steuern zu zahlen, da diese europäische Infrastruktur nutzen und von der guten Ausbildung der EU-Bürger profitieren.

Immer wieder streut von der Leyen Teile ihrer Biografie ein: Als siebenfache Mutter sei es ihr besonders wichtig, Armut zu bekämpfen und dafür zu sorgen, Kindern Zugang zu Bildung und Krankenversicherung zu geben. Viele Sozialdemokraten - abgesehen von den Hardlinern der Europa-SPD - werden gerne hören, dass die Kandidatin für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung plädiert: Sie soll EU-Staaten helfen, wenn sie von einem wirtschaftlichen Schock getroffen werden.

Als sie über den geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU spricht, den sie "bedauert, aber respektiert", wird es richtig laut - gerade in den Reihen der Brexit Party rund um Nigel Farage. Von der Leyen bleibt ruhig und betont, dass das Vereinigte Königreich "unser Verbündeter, unser Partner und unser Freund" bleiben werde. Auf ihre Forderung, dass die EU in der Außenpolitik vom Prinzip der Einstimmigkeit abgehen sollte, folgt lautes Klatschen, aber es gibt auch viele Buhrufe.

Zur Halbzeit ihrer Rede greift sie das Thema gender equality wieder auf: Unter den 183 Personen, die seit 1958 EU-Kommissare waren, seien nur 35 Frauen gewesen, was weniger als 20 Prozent entspreche. "Wir wollen unseren gerechten Anteil", ruft von der Leyen und bekennt sich dazu, im Kollegium der Kommissare einen Frauenanteil von 50 Prozent durchsetzen zu wollen.

Eine klare Haltung nimmt sie zum Rechtsstaatsprinzip ein. Es dürfe niemals "Kompromisse geben beim Respekt vor dem Rechtsstaat", denn die Unabhängigkeit der Gerichte schütze alle Bürger. Dass sie einen "umfassenden europäischen Rechtsstaatsmechanismus" befürwortet, wonach künftig "objektive Jahresberichte" für alle EU-Mitglieder vorgelegt werden sollen, war bereits bekannt.

Gleiches gilt für ihre Ankündigung, beim Migrationsrecht einen "Neustart" wagen zu wollen und das Dublin-System zu reformieren. Seit 2014 seien mehr als 17 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken und es sei die Pflicht der Europäer, Menschenleben zu retten und die Würde aller Individuen zu schützen. Das mache es aber nötig, Schmuggler und organisierte Kriminalität zu bekämpfen und den Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex auf 10 000 Mitarbeiter bereits bis 2024 zu erreichen - und nicht erst 2027.

Gegen Ende kommt die Bewerberin auf ein heikles Thema zu sprechen: die Stärkung der Demokratie. Weil von der Leyen anders als Manfred Weber von der CSU und der Sozialdemokrat Frans Timmermans eben nicht als Spitzenkandidatin bei der Europawahl angetreten war, stößt sie bei vielen Abgeordneten auf Skepsis. Lachen füllt den Saal, als sie sagt: "Wir müssen das Spitzenkandidaten-Prinzip verbessern."

Die CDU-Politikerin möchte dessen Weiterentwicklung im Rahmen einer großen, zweijährigen Bürgerkonferenz in ganz Europa debattieren - dass dies eine Idee von Frankreichs Präsident Macron ist, schadet nicht. Und sie verspricht den Europaparlamentariern das Initiativrecht: Die Abgeordneten sollen Gesetze einbringen können. Sie verpflichtet sich dazu, dass ihre EU-Kommission mit einem entsprechenden Legislativakt reagieren werde, wenn das Parlament dies mit Mehrheit fordere.

Den Großteil ihrer Rede hält von der Leyen auf Englisch, doch am Ende spricht sie nochmals Deutsch. Sie berichtet von ihrem Vater, der am Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den Deutschland "Tod, Verwüstung, Vertreibung und Zerstörung" über Europa gebracht habe, 15 Jahre alt gewesen war - Ernst Albrecht hatte also diesen verheerenden Krieg in Europa noch selbst erlebt. Später arbeitete er für die Montanunion, weshalb sie in Brüssel zur Welt kam. Sie bezeichnet sich als "leidenschaftliche Kämpferin" für ein starkes, blühendes Europa und macht klar: "Wer aber dieses Europa schwächen, spalten oder seine Werte nehmen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin."

Europa müsse seinen Einfluss nutzen und Verantwortung übernehmen für sich und andere: "Die Welt schreit nach mehr Europa, die Welt braucht mehr Europa." Sie wisse, dass dies oft anstrengend sei, aber es sei eben "die nobelste Pflicht", alles dafür zu tun, damit die Bürger das Gefühl hätten, dass die EU liefere. Dies fordere vor allem die Jugend, inklusive ihrer eigenen Kinder, die ihr sagen würden: "Spielt nicht auf Zeit, sondern macht was draus." Ihre Bewerbungsrede endet mit einem pathetischen Aufruf in drei Sprachen: "Es lebe Europa, vive l'Europe, long live Europe!"

In Plenardebatte deutet sich Unterstützung an

In der anschließenden Debatte mit den Abgeordneten braucht von der Leyen dann vor allem eines: Sitzfleisch. Insgesamt 72 Abgeordnete hatten Wortmeldungen angemeldet, zusätzlich zu den acht Fraktionsvorsitzenden, die traditionellerweise zuerst das Wort haben. Manfred Weber von der EVP bekräftigt als Chef der größten Fraktion, dass die Kandidatin am Abend auf die Stimmen der Christdemokraten zählen kann: "Die Europäische Volkspartei wird Ursula von der Leyen heute geschlossen unterstützen."

Er bedankt sich für ihre Zusage, dem Parlament ein Initiativrecht einzuräumen, spricht sich aber auch dafür aus, den Nominierungsprozess für den Kommissionspräsidenten in der Zukunft zu verbessern, "damit die Hinterzimmer endlich der Vergangenheit angehören" - was im Saal mit Gelächter kommentiert wird.

Die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, die Spanierin Iratxe García Pérez, sagt, dass die Abgeordneten der Gruppe erst am Nachmittag eine Entscheidung treffen würden. Sie wollten aber "keine institutionelle Krise, die den Wandel noch aufschiebt". In den vergangenen Tagen hatten vor allem die SPD-Europaabgeordneten angekündigt, von der Leyen nicht zu unterstützen, was der Chef der Europa-SPD, Jens Geier, nochmals bekräftigt: "Wir 16 haben vor, dieses Versprechen zu halten."

Grüne begrüßen von der Leyens "Courage" - aber das reicht ihnen nicht

Die Grünen begrüßen von der Leyens "Courage", in Sachen Klimaschutz über das hinauszugehen, was die Christdemokraten bislang angeboten hatten. Trotzdem seien ihre Zusagen noch zu vage, und auch nicht ausreichend, sagt der Fraktionsvorsitzende Philippe Lamberts. Auch von der Leyens Plan für einen neuen Pakt für die Migrationspolitik sieht er skeptisch, weil das Europaparlament längst eine Lösung präsentiert habe: "Dieser Pakt existiert bereits, er wurde verabschiedet durch eine Mehrheit von fünf Fraktionen in diesem Parlament - nehmen Sie diesen Vorschlag einfach auf und setzen Sie ihn im Rat durch", sagte Lamberts, begleitet von Applaus auch aus den Reihen der Sozialdemokraten.

Um 12:57 Uhr, knapp vier Stunden, nachdem sie ein Saaldiener in den Plenarsaal geführt hatte, erhebt sich Ursula von der Leyen ein weiteres Mal. In ihrer ersten Antwort grenzt sie sich klar von den Redebeiträgen von Ober-Brexiteer Nigel Farage und AfD-Parteichef Jörg Meuthen ab: Wenn diese ihre Rede und Ideen ablehnten, dann habe sie es richtig gemacht.

Zum Abschluss bedankt sich die 60-Jährige auf Englisch für eine lebendige und kontroverse Debatte, die gezeigt habe, wie lebendig Europas Demokratie sei. Auf konkrete Wortbeiträge geht sie kaum ein, betont aber, dass sie sich dafür einsetzen will, die spürbare Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa zu überwinden.

Erneut bekennt sich von der Leyen zum Spitzenkandidatenprinzip. Sie sei der "natürliche Verbündete" des Parlaments, schmeichelt sie den Abgeordneten - und ruft ihnen am Ende zu, mutig zu sein. Mut zu zeigen, das kann in ihren Augen nur bedeuten, dass die Abgeordneten eine Kandidatin an die Spitze der mächtigsten EU-Behörde mit 35 000 Mitarbeitern wählen, die auf keinem Wahlzettel bei der Europawahl stand. Stattdessen wurde sie erst vor zwei Wochen von den Staats- und Regierungschefs präsentiert.

Mit allzu vielen Stimmen der Grünen darf die Bewerberin nicht rechnen. Auch wenn Fraktionschefin Ska Keller die Rede als "ziemlich gut" und "sehr proeuropäisch" beschreibt, vermisst sie doch konkrete Vorschläge - gerade bei den Themen Klimaschutz, Seenotrettung, Rechtsstaatlichkeit und Spitzenkandidatenprinzip. Dass die CDU-Politikerin am Ende auf keine Frage der Abgeordneten direkt geantwortet habe, sei bezeichnend. Sie spüre "keinen großen Appetit" in der 74-köpfigen Fraktion, die Meinung zu ändern, sagt Keller. Es bleibt also bei der Empfehlung des "Nein". Dass sie selbst mehrfach von der Leyen applaudiert habe, sei kein Widerspruch: "Wenn sie gute Sachen sagt, dann klatsche ich."

Auch Sven Giegold, Co-Chef der deutschen Gruppe, wird gegen von der Leyen stimmen, weil die Vorschläge nicht ambitioniert seien. Dass sich die Grünen damit an der Seite der AfD wiederfänden, sei "unangenehm, aber im Parlamentarismus unvermeidbar". Man habe stets die Inhalte in den Vordergrund gestellt, davon weiche man nach einer guten Rede nicht ab, so Giegold. Gesprächsbereit bleibe man aber - und abgestimmt wird um 18 Uhr.

Dann wird es an den Sozialdemokraten hängen - wenn diese aus Spanien, Portugal oder Schweden, wo Mitte-links-Parteien an der Regierung sind, für sie votieren, dann hat Ursula von der Leyen gute Chancen, Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker zu werden. Und die Gelegenheit, oft nach Straßburg zurückzukehren.

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