Europäische Union:Von der Leyen steht vor einer monströsen Aufgabe

File photo of German Defence Minister von der Leyen
(Foto: REUTERS)

Die EU lebt von der Kunst, im Kompromiss den Ausgleich verschiedener Interessen zu finden. Leider wurde diese Kunst zuletzt nicht mehr geübt. Hier muss die neue Kommissionschefin ansetzen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat während seiner Sorbonne-Rede im September 2017 in dem für ihn typischen, pompösen Duktus ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Eine Avantgarde müsse sich bilden in Europa, ein Zusammenschluss einzelner Mitglieder, die bereit sind für mehr: mehr Steuern, mehr Haushalt, mehr Außenpolitik, mehr Militär. Europa würde dann notwendigerweise zerfallen, in unterschiedliche Lager, Interessen, Geschwindigkeiten.

Neu ist diese Idee nicht. Was aber oberflächlich wie vorwärtsstürmender Reformeifer wirkt, birgt enorme Risiken. Wer in der EU neue unterschiedliche Regeln einführt, über Euro und Schengen hinaus, wird die Gemeinschaft der 28 bald nicht mehr haben. Was dann entsteht und wie es funktioniert, ist ungewiss. Was dabei zerstört wird, lässt sich auch schwer abschätzen. Es ist die Angst vor dem unkalkulierbaren Risiko, die den bewussten Zerfalls- und Neubauprozess noch aufhält.

Die Wahl der neuen EU-Kommissionspräsidentin wirft aber die Frage auf, ob Macrons Reformidee nicht bereits schleichend wirkt, ob der Zerfall also nicht bereits begonnen hat. Der Brexit ist ein Sonderfall und taugt als Beleg für Europas nachlassende Bindekraft nicht wirklich. Beunruhigen sollte aber die mangelnde Synchronität zwischen den großen Institutionen: dem Parlament, dem Europäischen Rat und der Kommission.

Jenseits der üblichen Machtkämpfe vor allem zwischen dem Parlament und der Versammlung der Regierungschefs gibt es nämlich eine neue Qualität in der Auseinandersetzung, was sich am mageren Abstimmungsergebnis für Ursula von der Leyen ablesen lässt. So knapp von der Leyen ins Amt gewählt wurde, so knapp hätte sie auch scheitern können. Bei neun Stimmen Mehrheit kann man schon vom Zufall reden. Das bedeutet: Die Parteienfamilien in Europa haben sehenden Auges eine schwere Beschädigung des EU-Systems in Kauf genommen, sie haben sich nicht auf die alten Tugenden ihrer Institutionen besonnen und den Kompromiss gesucht. Sie haben bewusst den liberalen Gründungsgedanken der EU ignoriert, der nun mal den Ausgleich der Interessen zum Handlungsprinzip erhoben hat.

Dabei war die Frage des Wahlverfahrens fast schon zweitrangig, die vor allem die deutschen Anhänger des Spitzenkandidaten-Systems umtreibt. Die Zerfallsdynamik hat viel mächtigere Antreiber: den grassierenden Nationalismus, die Lust am kleinen Vorteil, den populistischen Beifang, den der EU-Spott garantiert. Nationale und Parteiinteressen stehen über dem Interesse am Bestand der Institution. Das ist neu in dieser Radikalität.

Feste Koalitionen gibt es im Europaparlament nicht

Das Europaparlament kennt keine festen Koalitionen, die Kommissionspräsidentin ist auch keine Regierungschefin. Und dennoch verweigern die Mitte-Parteien die geschlossene Zustimmung, um - ja, um was eigentlich zu erreichen? Beispiel Grüne: Die Pose der Puristen mag für den Tag taugen, in der realen Welt der europäischen Machtverteilung verpufft sie. Bisher konnte sich das unfertige Europa auf die Vernunft der Mitte verlassen. Damit scheint es nun vorbei zu sein.

Ursula von der Leyen steht vor der monströsen Aufgabe, sehr schnell bei konkreten Entscheidungen diesen Zerfallsprozess zu stoppen. Die Mutter aller Konflikte steht der Kommission jetzt mit den Haushaltsgesprächen ins Haus. Die sind überladen mit einer vielfältigen Erpressungsagenda (Rechtsstaatlichkeit, Steuerharmonisierung, Subventionsreform, Wettbewerbspolitik). Von der Leyen darf den Verteilungskampf nicht zum Überlebenskampf ausarten lassen und muss dabei vor allem den Rat einbinden. Denn es steht außer Frage: Die Versammlung der Staats- und Regierungschefs ist momentan das Machtzentrum der EU. Deswegen gilt: Wenn auch noch dieses Zentrum bröckelt, wenn die Vertreter der Nationen nicht mehr zusammenfinden, dann zerfällt die EU.

Es gehört zur Tragödie dieser neu zu bildenden Kommission, dass sie den Großteil ihrer Energie für den inneren Zusammenhalt investieren muss und Europas eigentliches Problem wohl nur am Rande behandelt: Wo bleibt das europäische Modell, wenn es zwischen einem unberechenbaren, selbstzerstörerischen Amerika und einem kontrollwütigen, autoritären China zerrieben wird?

Die EU als Akteurin der Weltpolitik steht nicht auf dem Spielplan. Stattdessen hat sich die Gemeinschaft von jener Seuche anstecken lassen, die liberale und ausgleichende Tugenden unmöglich macht. Dahinter steckt weniger ein Demokratiedefizit als ein Haltungsproblem. Eine Flucht in die Avantgarde wird es nur verschärfen.

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