Viel mediale Aufmerksamkeit erhielt der Stargast nicht, als er im September 2019 nach Brüssel kam. Als japanischer Premier vertrat Shinzō Abe die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und umwarb die Europäer: Viel enger sollte man kooperieren bei der Konnektivität, also bei Infrastrukturprojekten wie Häfen oder Brücken, aber auch Begegnungen zwischen Menschen fördern. Vernetzung ist das Zauberwort. Abe erreichte sein Ziel: Jean-Claude Juncker, damals Chef der EU-Kommission, und er unterschrieben ein Partnerschaftsabkommen.
Mit 1400 Teilnehmern war das Interesse riesig am "Forum der Europäischen Konnektivität". Die Veranstaltung sollte eine Initiative voranbringen, an der sich exemplarisch zeigt, wieso die EU oft auf globaler Bühne weniger Einfluss ausübt, als dies angesichts ihrer Wirtschaftskraft möglich wäre. 2018 hatte die damalige Außenbeauftragte Federica Mogherini die "EU-Asien-Konnektivitätsstrategie" präsentiert.
"Neue Seidenstraße" bleibe haften und erinnere an Marco Polo
Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich ein potenziell mächtiges Instrument für die EU, Partner an sich zu binden und Prioritäten durchzusetzen. Heute sprechen in Brüssel immer mehr Leute aus, was damals bestritten wurde: Dies ist die geopolitische Antwort auf Chinas "Belt and Road Initiative" (BRI), auch bekannt als "neue Seidenstraße".
Ein solcher Name bleibe haften, erinnere an Marco Polo und sorge für funkelnde Augen, gibt ein gut vernetzter EU-Diplomat zu und fordert: "An dem Projekt haben bisher nur Beamte gearbeitet, nun muss es politischer werden." Konnektivität müsse auf der To-do-Liste der Kommission nach oben rutschen und Chefinnensache werden. Als sich Ursula von der Leyen kürzlich mit den Botschaftern der 27 EU-Mitglieder traf, sei die CDU-Politikerin aufgeschlossen gewesen, meinen Insider. Das Talent ihres Teams, griffige Slogans zu finden, sei bei diesem Wortungetüm nötig. Auch wenn sie weiter die Bewältigung der Corona-Pandemie als zentrale Aufgabe ansehen dürfte, steckt hier Potenzial für von der Leyens angekündigte "geopolitische Kommission".
Dass die EU China seit 2019 nicht nur als Partner, sondern auch als Konkurrent und "Systemrivale" begreift, muss durch Taten untermauert werden, sonst bleiben nur Phrasen. Wenn Europa neben Japan auch stärker mit den südostasiatischen Asean-Ländern kooperieren würde, wäre dies ein Signal für Washington. "Das bei Weitem wichtigste Thema, über das die Amerikaner reden wollen, ist China", sagt ein gut vernetzter Diplomat. Nachdem die EU wochenlang Papiere für den "transatlantischen Neustart" verfasst habe, könnte man Joe Biden etwas Konkretes anbieten.
Mit Japan und Australien hatte Donald Trump das "Blue Dot Network" für Infrastrukturprojekte als Antwort auf Chinas Seidenstraße gegründet. Der EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer (Grüne) hat gerade einen Bericht zum Thema Konnektivität verfasst, den das Europaparlament mit großer Mehrheit angenommen hat. Er erwartet, dass Biden ähnliche Ziele wie sein Vorgänger hat. "Bei Blue Dot konnten wir nicht mitmachen, weil Trumps Leute Klimafragen ausklammern wollten", sagt er. Auch Bütikofer fordert mehr Engagement von der Leyens und argumentiert, dass sie so ihre Ziele wie etwa Europas Klimaneutralität bis 2050 besser erreichen könnte.
"Stärke durch Kooperation, das liegt in den Genen der EU", findet der Grüne und verweist darauf, dass die Europäer für Staaten entlang der neuen Seidenstraße fairere Partner bei der Finanzierung von Projekten werden sollten als die Chinesen. Laut Bertelsmann-Stiftung ist die Unterstützung der EU für Indien, Vietnam, Ägypten oder Afghanistan bereits größer als jene durch Peking. Chinas Investitionen übertreffen die europäischen jedoch in Pakistan, Laos und Kasachstan. Auch auf dem Westbalkan ist die EU mit Abstand am aktivsten, was in der Region längst nicht allen bewusst ist. Bütikofer gibt zu, dass Chinas Seidenstraßen-Projekt die Europäer "aufgeweckt" habe, doch angesichts einer wachsenden Enttäuschung über Pekings unerfüllte Versprechen biete sich eine Chance für die EU - und mit Deutschland, Frankreich und Polen drängten drei große Mitgliedstaaten auf ein höheres Tempo.
Von einer anderen Enttäuschung berichtet Andrew Small vom German Marshall Fund (GMF). Dass die EU auf Druck aus Berlin hin zwischen Weihnachten und Neujahr mit Peking das Investitionsschutzabkommen CAI abschloss, sei in Washington "sehr schlecht" angekommen: "All das Misstrauen und der Verdacht, dass es den Europäern nur ums Geschäft gehe, ist wieder da." Der Times sagte ein Biden-Berater: "Es gibt viel Frust und Ungeduld darüber, wie sich die EU und Deutschland positionieren, gerade gegenüber China."
Um Pekings Einfluss im Indopazifik zu kontern, wendet sich Indien den Europäern zu
Der GMF-Experte sieht Konsens zwischen Demokraten und Republikanern: Das Verhältnis zwischen den USA und China wird das 21. Jahrhundert prägen. "Wer sich im Umgang mit Peking nicht als verlässlich und prinzipientreu erweist, dürfte bei Themen wie Handel wenig Zugeständnisse erwarten", sagt er. In Washington habe man die EU-Pläne in Sachen Konnektivität auch unter Trump genau verfolgt und sei "enttäuscht" gewesen über den Stillstand seit Herbst 2019.
Um Chinas wachsenden Einfluss im Indopazifik zu kontern, wendet sich Indien stärker den Europäern zu: Im Mai soll Premier Narendra Modi zum EU-Indien-Gipfel nach Portugal reisen. Dort wollen beide eine Konnektivitätspartnerschaft unterzeichnen. Indien plane einen Fokus auf Digitalisierung, sagt Small, doch das Durchboxen des CAI-Deals habe in Delhi für Unruhe gesorgt: "Einige fragen sich, ob man mit der Offerte an die EU aufs falsche Pferd gesetzt hat."
EU-Diplomaten reagieren auf solche Kritik mit zwei Argumenten: So erhielten EU-Firmen in China einen ähnlichen Status wie US-Unternehmen, zudem hätte Washington Brüssel bei Handelsgesprächen auch nicht konsultiert. Dennoch spüren viele: Der Vorwurf der Naivität muss widerlegt werden. Dafür brauche es mehr Engagement von der Leyens: Nur klare Ansagen der Chefin würden die Grabenkämpfe zwischen den Generaldirektionen der Behörde beenden und dafür sorgen, dass die vorhandenen Milliarden richtig genutzt werden. Handels-, Entwicklungs- und Außenpolitik müssten abgestimmt werden.
"Mit Brexit und dem mehrjährigen EU-Haushalt sind große Brocken aus dem Weg geräumt. Jetzt geht es darum, die EU geopolitisch besser aufzustellen und bei der Ausarbeitung der Programme die richtigen Prioritäten zu setzen", meint ein hochrangiger EU-Diplomat. Portugal, das gerade die Ratspräsidentschaft innehat, will nicht nur im Kreis der Außenminister über Konnektivität debattieren lassen: Von Juni an soll ein Tiefseekabel namens "Ella Link" zwischen Portugal und Brasilien den Datenaustausch mit Südamerika verbessern - mit Technik von Nokia aus Finnland.
Noch ein Grund für die Eile: Dem Investitionsabkommen muss noch das Europaparlament zustimmen. Dort sitzen aber die schärfsten Kritiker des autoritären Präsidenten Xi Jinping: Vielen Abgeordneten reicht das erwähnte Verbot von Zwangsarbeit nicht aus. CAI müsse in den Gesamtkontext europäischer Chinapolitik gestellt werden, sagt Reinhard Bütikofer. Der Chef der China-Delegation des EU-Parlaments will nicht nur eng mit Japan, Indien, Südkorea und Australien kooperieren, sondern auch afrikanischen Ländern etwas anbieten. Das Ziel seien hohe Standards bei Nachhaltigkeit und Finanzierung. Man könnte auch mit Peking kooperieren, wo das europäischen Kriterien und Zielen entspreche.
Geht es nach Bütikofer, müsste von der Leyen das Thema Konnektivität einem ihrer drei Exekutiv-Vizepräsidenten übertragen. Auf diese Aufwertung hoffen viele Brüsseler Diplomaten. In der Debatte des EU-Parlaments über Bütikofers Bericht sprach Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi von "völliger Übereinstimmung" und sagte, er freue sich auf das nächste "Forum der Europäischen Konnektivität". Dies wäre eine hinreichend große Bühne, um die Angebote der EU vorzustellen.