Süddeutsche Zeitung

Vom Umbau des Rechtsstaats in einen Präventionsstaat:Der große Rüssel

Innenminister Schäuble hat geschafft, was seinen Vorgängern nie gelungen war: Eine Grundsatzdiskussion über die Veränderungen des Rechtssystems in Deutschland. Werden seine Pläne umgesetzt, wird jeder Bürger zum Ausländer im eigenen Land.

Heribert Prantl

Innenminister Wolfgang Schäuble hat nun etwas geschafft, was ihm und seinen Vorgängern bisher nie gelungen war: Eine Grundsatzdiskussion über die gewaltigen Veränderungen des Rechtssystems in Deutschland. Seine irritierenden Bemerkungen über die Unschuldsvermutung haben den Blick von den unzähligen Einzelheiten des sogenannten Anti-Terror-Kampfes auf das Große und Ganze gelenkt - auf den Umbau des Rechtsstaats in einen Präventionsstaat.

Bisher war stets nur über einzelne Maßnahmen und Gesetze gestritten worden. Und von jedem einzelnen dieser vielen Gesetze und von jeder einzelnen dieser vielen Maßnahmen hing angeblich jeweils die Zukunft der inneren Sicherheit ab: So war es beim Lauschangriff, bei der Ausweitung der Telefonüberwachung, beim Luftsicherheitsgesetz, beim biometrischen Personalausweis, so war es bei der Schleier- und Rasterfahndung, bei der Anti-Terror-Datei und beim heimlichen Zugriff des Verfassungsschutzes auf private Bankkonten.

Und so ist es heute bei der Videoüberwachung, bei der automatischen Gesichtserkennung, bei der Verwendung von Mautdaten zur Fahndung und zur Überwachung, so ist es bei der Vorratsspeicherung der Telefon- und Internet-Daten, der Fingerabdrücke und der Passfotos aller Bürger, und so ist es bei der geheimen Online-Durchsuchung privater Computer.

Der - für sich genommen zutreffende - Hinweis Schäubles, dass die Unschuldsvermutung zwar bei der Verfolgung von Straftaten, nicht aber bei der Abwehr von Gefahren gelte, hat einerseits argwöhnische Erregung ausgelöst, zugleich aber die Erkenntnis über Wesen und Kern all dieser neuen Gesetze und Maßnahmen befördert: Der Staat baut sein Sicherheitssystem nunmehr vor allem jenseits des Strafrechts aus, weil dort dessen strenge Prinzipien zum Schutz des womöglich unschuldigen Individuums nicht gelten und weil dort Rechtsschutz und Kontrolle im Übrigen schon deshalb nicht funktionieren, weil der Bürger von den Zugriffen meist gar nichts erfährt. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.

Wer weiß schon, beispielsweise, vom "Großen Rüssel", mit dem vom Bundesamt für Finanzdienstleistungen die Kontendaten abgesaugt werden können? Das Kreditwesengesetz hat schon vor fünf Jahren die Banken verpflichtet, auf eigene Kosten alle notwendigen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass der Staat jederzeit online auf die Konten zugreifen kann, ohne dass die Bank, geschweige denn der Kunde davon erfährt, wer diese Daten einsieht und was er damit anstellt. So werden Grundrechte banalisiert.

Banalisierung der Grundrechte

Es geht diesen neuen Sicherheitsgesetzen nicht mehr primär um die Verfolgung begangener Straftaten, auch nicht primär um die Verhinderung einzelner krimineller Handlungen.

Es geht vielmehr darum, ein Frühwarnsystem zu zu errichten, um Risiken krimineller oder terroristischer Art schon im Vorfeld ihrer Realisierung zu erkennen und zu bekämpfen. Dabei werden, und das ist der Preis dieses Frühwarnsystems, Mittel und Methoden angewendet, die im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren: Abhören, Belauschen, Durchsuchen.

Der staatliche Zugriff auf private Konten, Dateien und Gespräche wird umfassend erlaubt, die Legitimations- und Legalitätsgrenzen, die bisher dabei galten, werden vernachlässigt; die Größe der terroristischen Bedrohung gilt als Begründung. Das Recht wird verdünnt, um so angeblich besser mit (globalen) Risiken fertig zu werden. Dieser Rechtserosionprozess ist daher nicht auf Deutschland beschränkt. In den USA kann man seinen Fortgang studieren.

Telefonüberwachung, Kontoüberwachung, Videoüberwachung, Computerüberwachung: Jede einzelne dieser Maßnahmen mag für sich genommen noch für tolerabel gehalten werden. Von einer einzelnen Videokamera und einer einzelnen Speichelprobe geht keine Gefahr aus. Die gefährliche Totalität ergibt sich aus der Summe.

Immer dichtere Netze

Die Erfassungsnetze werden dichter, die beobachtungsfreien Zonen kleiner. Aus dem freiheitlichen Rechtsstaat wird ein fürsorglicher Präventionsstaat, der seine Bürger nicht mehr als unverdächtig, sondern als potentiell verdächtig, als "noch" nicht verdächtig betrachtet. Jeder Einzelne gilt als Risikofaktor, jeder muss es sich daher gefallen lassen, dass er, ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben, "zur Sicherheit" überwacht wird.

Das Sicherheitsrecht verlässt seine bisherigen Anknüpfungspunkte: Das Strafrecht verlässt den konkreten Tatverdacht, das Polizeirecht den Anknüpfungspunkt der konkreten Gefahr. Das bisherige Normensystem löst sich auf in einem einheitlichen Recht der inneren Sicherheit, das immer weniger zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen unterscheidet. Das bisherige Rechtsschutzsystem steht hilflos neben dieser Entwicklung.

Der neue Präventionsstaat zehrt von den Garantien des Rechtsstaats; er entsteht, in dem er sie verbraucht. Das ist die Grundproblematik der derzeitigen Politik der inneren Sicherheit. Und das ist der schwärende Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Politik; das höchste Gericht warnt und warnt und versucht, die rechtsstaatlichen Grundsätze immer wieder zu restaurieren - aber die Politik hat sich von Karlsruhe abgekoppelt.

Das Gericht entscheidet nach den alten rechtsstaatlichen Kriterien, die Politik folgt ihren neuen präventionsstaatlichen Plänen. Immer dann, wenn die Richter wieder am Zug sind, ist der Ausbau des Präventionsstaats schon um drei Stockwerke weiter.

Diesen Ausbau haben sich die Bürger bisher aus zwei Gründen gefallen lassen: Erstens weil der Staat die Angst vor der Gefahr immer wieder forciert ("erhöhte Bedrohungssituation") und deshalb alles Billigung findet, was angeblich die Gefahr entschärft. Und zweitens glauben die Menschen daran, dass Karlsruhe es im Not- und Übertreibungsfall schon wieder richten wird. Das aber funktioniert nicht mehr.

Am Streit um den Lauschangriff zeigt sich das sehr deutlich: Das höchste Gericht hat ihn im Jahr 2004 in einer fulminanten Entscheidung eingeschränkt, weil die Menschenwürde es verbiete, intimste Gespräche zu belauschen. Die Sicherheitspolitiker halten das Urteil für unpraktikabel - also wollen sie das Grundgesetz noch einmal ändern. Eine Änderung, welche die Menschenwürde oder das Rechtsstaatsprinzip im Kern berührt, ist aber unzulässig. So steht es in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz. Kümmert das noch jemanden?

Pflicht zur Folter

Der Präventionsstaat muss, das liegt in seiner Logik, dem Bürger immer mehr Freiheit nehmen, um ihm dafür Sicherheit zu geben; das trägt den Zug zur Maßlosigkeit in sich, weil es nie genug Sicherheit gibt - an den sich überschlagenden Forderungen Schäubles ist das schon heute ablesbar.

Und wenn der Präventionsstaat wirklich "alles tun muss", um seine Bürger zu schützen (wie Schäuble und die Corona der Länderinnenminister von Union und SPD es behaupten), dann ist die Politik mit ihren derzeitigen exzessiven Sicherheitsmaßnahmen, die bereits die Grenzen der Rechtsgarantien des Strafrechts und der Unschuldsvermutung hinter sich lassen, noch lange nicht fertig: Wenn "alles" getan werden muss, dann dürfen, ja dann müssen solche "Gefahrpersonen" vorbeugend inhaftiert werden, die zwar noch keine schwere Straftat begangen haben, von denen aber die Behörden glauben, dass sie eine begehen könnten. Die Diskussion über eine solche Langzeit-Quarantäne hatten wir schon vor drei Jahren; der Innenminister hieß damals Otto Schily.

Und gibt es nicht geradezu eine Pflicht des Präventionsstaates, jedenfalls in den "ticking-bomb"-Fällen, zu "verschärften Vernehmungsmethoden" zu greifen? Auch das Folterverbot entstammt ja dem Strafrecht, ist also nach der herrschenden politischen Logik bei der Gefahrenabwehr nicht relevant.

Innenminister Schäuble verteidigt das Folterverbot grundsätzlich - und lockert es zugleich. Die deutschen Beamten sollen nicht selber die Stromkabel an die Hoden des Delinquenten halten.

Erfolterte Informationen stinken nicht

Wenn dieser aber von anderen und anderswo, in Guantanamo oder Afghanistan, auf diese Weise gesprächig gemacht worden ist, dann sollen die deutschen Behörden davon profitieren dürfen. Geld stinkt nicht, hat einst der römische Kaiser Vespasian gesagt, als er die Besteuerung der öffentlichen Toiletten einführte. Für den Innenminister sind es erfolterte Informationen, die angeblich nicht stinken.

Das deutsche Sicherheitsrecht verwandelt sich in ein Ausländerrecht. Es verfährt mit seinen Bürgern so, wie es seit Jahren mit den Migranten verfährt. Sie werden regelmäßig erkennungsdienstlich behandelt; mehr als hundert Millionen Einzeldaten sind im Ausländerzentralregister zum jederzeitigen Zugriff gespeichert. Das ist das Vorbild für das geplante Bundesmelderegister.

Die Ausländer- und Asylpolitik war ein Menetekel - die Beschränkung der Individualrechte, die Vereitelung des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes, wurde dort vorexerziert: Der Rechtsschutz im Asylrecht ist kaum noch existent; und im Ausländerrecht gelten Ausländer grundsätzlich als verdächtig. Die Unschuldsvermutung ist hier längst abgeschafft. Ausländer werden wegen Straftaten abgeschoben, ohne dass sie wegen dieser Taten verurteilt worden sind. Die "Sicherheit der Bundesrepublik" genügt zur Rechtfertigung einschneidendster Maßnahmen.

Das Bild vom potentiell gefährlichen Individuum, das den neuen Präventionsstaat kennzeichnet, wurde im Ausländerrecht konturiert - im allgemeinen Polizeirecht wird es nun koloriert und multipliziert. Immerhin ist damit dem Gleichheitsgrundsatz Genüge getan: Im neuen Präventionsstaat sind alle Menschen Ausländer.

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Quelle:
SZ vom 21./22.April 2007
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