Volkszählung 2011: Staat sammelt Daten:Das Leben der anderen

Zensus 2011 - Deutschland macht Inventur: In den achtziger Jahren tobten wegen der Volkszählung Proteste, heute regen sich nur wenige richtig auf. Die Statistiker wollen lediglich zehn Prozent der Haushalte befragen - Kritiker zweifeln dennoch am Sinn der Aktion.

Sebastian Beck

Klaus Brunnstein ist ein Mann, der gerne segelt. Damit auch andere an seiner Leidenschaft teilhaben können, hat er ein Foto seines Zweimastschoners Arethusa ins Internet gestellt. "Da bin ich stolz drauf", sagt Brunnstein. Sonst ist er eher vorsichtig im Umgang mit seinen persönlichen Daten: Er verfügt weder über einen Facebook-Zugang noch über ein Online-Konto bei der Bank. Auch das Einkaufen im Internet lehnt Brunnstein ab - aus Gründen der Sicherheit: Der potentiellen Selbstbereicherung von Betrügern wolle er keinen Vorschub leisten.

Zensus 2011

In den achtziger Jahren gab es im ganzen Land Boykottgruppen gegen die Volkszählung, bei einer Bundesligapartie sprühten Zensus-Gegner sogar ihre Parole in den Anstoßkreis. Das ist heute undenkbar: Nur ganz vereinzelt regt sich Kritik an der Datenerhebung des Staates.

(Foto: dapd)

Brunnstein muss es schließlich wissen: Der 73-jährige Professor für Informatik und frühere FDP-Politiker aus Hamburg zählt zu den Pionieren seines Fachs in Deutschland. Brunnstein beschäftigte sich schon in den fünfziger Jahren mit Computern und deren Sicherheit, als die Rechner noch so groß wie Wohnzimmer waren.

Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Ihm und einigen anderen Aktivisten ist es zu verdanken, dass in den juristischen Sprachgebrauch das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" Eingang gefunden hat: Denn sie brachten mit ihrer Beschwerde vor dem Verfassungsgericht die für das Jahr 1983 geplante Volkszählung zu Fall. Das Karlsruher Urteil schrieb Rechtsgeschichte: Für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit sei der Schutz vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe von persönlichen Daten unerlässlich, heißt es in der 76 Seiten langen Begründung.

Doch der Streit um die Volkszählung ging danach erst richtig los: Als der Zensus im Mai 1987 schließlich in veränderter Form nachgeholt wurde, da gehörte Brunnstein erneut zu den Kritikern, die vor dem Missbrauch der Daten warnten. Egal, wo er auftrat, die Säle waren voll - allein an der Technischen Universität München seien es mehrere tausend Zuhörer gewesen, erinnert sich Brunnstein.

In der ganzen Republik bildeten sich Boykottgruppen gegen die vermeintliche Schnüffelei. Vor der Bundesligapartie zwischen Dortmund und dem Hamburger SV sprühten Gegner des Zensus ihre Parole auf den Anstoßkreis: "Boykottiert und sabotiert die Volkszählung." Sie wurde schnell noch geändert: "Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht."

Die Schreckensvision vom totalen Überwachungsstaat, die George Orwell in seinem Roman 1984 entworfen hatte, prägte damals das politische Klima. Parteifreunde legten Brunnstein den Austritt aus der FDP nahe, weil er im niedersächsischen Fallingbostel mit einem besonders schlimmen Querulanten ans Rednerpult getreten sei: dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin.

So gut wie kein Widerstand

Fast auf den Tag genau 24 Jahre danach wird in Deutschland wieder das Volk gezählt. Doch gegen den Zensus am 9. Mai 2011 regt sich diesmal so gut wie kein Widerstand. Der Bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri schätzt die Zahl der kritischen Eingaben an seine Behörde auf etwa zehn - im gesamten Freistaat. Der Aufstand der Bürger ist ausgeblieben. Nur ein Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung müht sich mit ähnlichen Argumenten wie 1987 mehr schlecht als recht um Aufmerksamkeit.

Rein rechtlich sei der Zensus 2011 nicht zu beanstanden, sagt Brunnstein. Auch was den Datenschutz betreffe, habe man durchaus Anstrengungen unternommen. Hauptgrund für die Gleichgültigkeit der Bevölkerung sei aber ein anderer: "Wir leben mittlerweile in einer anderen Gesellschaft", sagt Brunnstein. "Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden." Das englische Prinzip "My home is my castle" sei vom amerikanischen Grundsatz der Informationsfreiheit ablöst worden, was sich auch an der Struktur des Internets ablesen lasse: "Hier gibt es keinerlei Schutzmechanismen", sagt Brunnstein. "Den Leuten ist das aber völlig egal." Und noch etwas hat sich geändert: In den achtziger Jahren richtete sich das Misstrauen der Bürger vor allem gegen den Staat. Dass private Banken und Versicherungen aber schon damals in Großrechnern die Daten von Millionen Kunden speicherten, die weit über die Volkszählung hinausgingen, das war den Bürgern nicht bewusst.

Rührend altmodische Form der Informationsgewinnung

Heute mutet die Volkszählung an der Haustür mit Fragen nach dem Schulabschluss wie eine geradezu rührend altmodische Form der Informationsgewinnung an. Ob sie überhaupt noch sinnvoll ist, das bezweifelt nicht nur Brunnstein: Spätestens mit der Wiedervereinigung von 1990 seien die Daten von 1987 schon wieder überholt gewesen, und das, obwohl ihre Auswertung noch bis in die Mitte der neunziger Jahre gedauert habe.

Besser als eine großflächige Zählung ist es nach Ansicht von Brunnstein, Daten für bestimmte Projekte kurzzeitig und zielgerichtet zu erfassen. Ähnlich skeptisch äußerte sich auch Thilo Weichert, der Landesbeauftrage für Datenschutz in Schleswig-Holstein, über den Zensus 2011: Es sei nicht einsichtig, warum eine so teure und aufwendige Aktion überhaupt durchgeführt werde. "Politische Fehlplanungen basieren nicht auf fehlenden Daten, sondern auf der falschen Bewertung vorhandener Daten."

Für Datenschützer wie Weichert und Petri wird die Aufgabe immer schwieriger - der Zensus 2011 ist hier nur von untergeordneter Bedeutung. Denn im Vergleich zu 1987 sind die Möglichkeiten zur Speicherung und zum Austausch von Daten in geradezu unvorstellbarer Weise gewachsen. Auch die Überwachung durch Kameras und Sensoren zählt mittlerweile zum Alltag der Menschen. Doch während auf staatlicher Seite das Bewusstsein für Risiken und Grenzen der Datenverarbeitung gewachsen ist, sammeln Firmen im Internet unkontrolliert Informationen über ihre Kunden - von Amazon bis Apple.

Und im Gegensatz zum Zensus 2011, bei dem sie zur Auskunft verpflichtet sind, stellen die Bürger ihre persönlichen Daten sogar freiwillig ins Netz. Auch solche, die sie dem Volkszähler nie und nimmer verraten würden.

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