Volksentscheide:Wir! Sind! Das! Volk!

Das, was Politiker für den Willen des Volkes halten, und das, was das Volk wirklich will, ist selten dasselbe: Nach der Ohnmacht bei der Bundespräsidentenwahl hat der Souverän Bayerns Raucher-Politik korrigiert. Ein Fanal - auch bundesweit.

Joachim Käppner

Als die Bundestagsabgeordneten noch unter der Glasglocke des Bonner Regierungsviertels hockten, sprachen sie gern "von den Menschen draußen im Lande". Wir sind hier drinnen, hieß das, an den Hebeln der Macht, und die da draußen sind es nicht. Heute reden die Berliner Politiker zeitgemäß korrekt von den "Bürgerinnen und Bürgern", aber geändert hat sich wenig. Das Volk, der Souverän, bleibt draußen, wenn die Entscheidungen fallen.

Wohl nie zuvor haben die Bürger der Republik Ohnmacht und Macht innerhalb von so wenigen Tagen gespürt. Sie hätten gern ihren Bundespräsidenten direkt gewählt, und das wäre dann wohl nicht Christian Wulff gewesen; weil aber die Parteien das Wahlverfahren im Klammergriff halten, ist er es doch. Nur vier Tage nach diesem vom Wahlvolk mit Grimm beobachteten Spektakel indessen hat der Volksentscheid in Bayern die dortige Staatsregierung beschämt, und bald werden die Hamburger über die Zukunft ihrer Schulen abstimmen und dem schwarz-grünen Senat womöglich eine schwere Niederlage bereiten.

Bei allem Mitgefühl für rauchfreudige Zecher und für ihre Trinkstuben, die "Schluckspechterl" oder ähnlich heißen: Wenn die Mehrheit der Abstimmenden so klar und deutlich wie beim bayerischen Rauchergesetz eine irrlichternde Politik korrigiert, wirkt das auch bundesweit wie ein Fanal. Der Souverän hat gesprochen. Man kann der siegreichen Initiative schwerlich verdenken, dass sie mit demselben Mittel nun zu einem Triumphzug durch andere Bundesländer ansetzen will. Ihre Aussichten sind gut. Zu schön ist die Symbolik: Wir sind das Volk! Eine Bewegung von unten - oder eben von draußen - bläst frischen Wind in die Korridore der Macht.

Dort warnt man gern vor den antiparlamentarischen Affekten, nach denen die Initiatoren solcher Entscheide haschen könnten. Aber Plebiszite sind ja gar kein Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie. Sie sind eine Ergänzung, ein kräftiges, stärkendes Mittel gegen den verbreiteten Verdruss an Politik, Parteien und Parlament.

Es gibt, jedenfalls oft, einen Unterschied zwischen dem, was Politiker für den Willen des Volkes halten, und dem, was das Volk wirklich will. Der Raucherentscheid war nötig, weil Bayerns Staatsregierung das Volk mit jenen verwechselt hatte, die sich gern als dessen Stimme ausgeben: die üblichen Lobbyisten, Verbandsmenschen und Zuflüsterer. Jetzt hat ausgerechnet der Wähler, dem zuliebe sie ihr Rauchergesetz mit so vielen Ausnahmen gespickt hat, dass diese fast wieder zu Regel wurden, Horst Seehofers Regierung auf den Pfad der Tugend zurückgeführt.

Spielraum im Grundgesetz

Die Bundesrepublik ist 1949 zwar aus guten Gründen als im Kern repräsentative Demokratie geschaffen worden. Ein guter Grund war, dass niemand eine Wiederholung der Weimarer Erfahrung wünschte, als die Feinde der Republik Plebiszite über Fürstenenteignung und Reparationszahlungen in Bühnen eines schaurigen Politkarnevals verwandelten. Doch Berlin ist nicht Weimar, wie schon Bonn es nicht war.

Heute leidet die Demokratie nicht unter dem Ansturm ihrer Feinde, sondern eher unter dem Gleichmut und Verdruss ihrer Freunde. Und aus Gründen, die einmal gut waren, sind längst Vorwände geworden. Die Parteien haben, anders als die Verfassungsväter von 1948/49, nicht mehr Angst vor dem unmündigen Volk. Sie fürchten vielmehr das mündige. Sie wollen nicht mehr Demokratie wagen, sondern sie wagen nicht, die Macht in der Demokratie zu teilen, und sei es auch nur ein Stück weit.

An solchem, in einer mündigen Demokratie längst antiquierten Denken ist noch 2002 der rot-grüne Versuch gescheitert, das Volk auch auf Bundesebene stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen.

Aber wenn der Souverän in den Ländern in der einen oder anderen Form selbst entscheiden darf, dann gibt es keinen Grund, ihm das auf Bundesebene zu verwehren. Die Verfassung verbietet den Volksentscheid nicht ganz so eindeutig, wie man glaubt. Wenn es in Artikel 20 heißt, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus und "wird in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt", ist die Frage noch nicht entschieden, ob das wirklich auf alle Zeit ein Verbot von Plebisziten bedeuten muss oder ob große Teile der Parteien das nur so wollen. Wie die Parlamente wären ja auch Plebiszite an Recht, Gesetz und Verfassung gebunden. Die Wähler könnten nicht - wie es das beliebte Gegenargument will - das Fallbeil für Kindermörder wieder einführen, weil sie verfassungswidrige Gesetze so wenig beschließen dürften wie der Bundestag.

Realistischer und damit interessanter wäre zum Beispiel die Frage, ob die Bürger es per Referendum erlauben würden, Soldaten nach Afghanistan zu schicken (wohl kaum) oder nationale Rechte an die EU abzutreten (unter Umständen). In den Kommunen, wo Volksentscheide seit Jahren die örtliche Politik beleben, und in den Ländern ist die Zahl der Fälle jedenfalls sehr gering, in denen Populisten und Politquerulanten Plebiszite mit Erfolg zweckentfremdet hätten. Volksentscheide wären auch im Bund ein Gewinn für die deutsche Demokratie. Man muss es nur wollen.

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