Süddeutsche Zeitung

Volksabstimmungen in der EU:Mehr Schweiz für Europa

Schweizer Volksabstimmungen lassen in Brüssel die Alarmglocken schrillen, weil die Angst vor dem unkontrollierten Wählerwillen umgeht. Dabei wäre das eidgenössische Modell der direkten Demokratie für viele Politikverdrossene durchaus reizvoll - und für Europa mehr Chance als Gefahr.

Von Wolfgang Koydl, Zürich

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des mündigen Bürgers. Er will mitreden, mitbestimmen, mitentscheiden. Es reicht ihm nicht mehr, alle vier oder fünf Jahre das Mitglied irgendeiner Partei in ein Parlament zu entsenden. Er will regelmäßig gefragt werden: immer dann, wenn der Staat Dinge plant, die in sein Leben eingreifen, und vor allem dann, wenn der Staat sein Geld ausgeben will. Das kann ein Hauptstadt-Airport in Berlin sein oder ein Regionalflughafen in Coburg, ein teures Spaßbad in der Heimatgemeinde oder ein Hilfspaket für Griechenland oder demnächst für die Ukraine.

Besonders große Furcht löst dieses Gespenst des nicht nur mündigen, sondern oft auch zornigen Bürgers in den Büros und Korridoren europäischer Institutionen in Brüssel und in Straßburg aus. Hier hat man sich schon immer schwergetan mit dem ungefilterten Wählerwillen: Wann immer in der Vergangenheit ein Volk ausnahmsweise über ein europäisches Projekt abstimmen durfte, lehnten die Bürger diese Vorhaben zunächst einmal ab - in Irland, Frankreich, den Niederlanden oder Dänemark. "Wenn wir jedes Mal die Menschen fragen würden, kämen wir mit dem europäischen Projekt nie voran", fasste es der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors einmal ebenso prägnant wie ehrlich zusammen.

Warum werden wir nicht gefragt?

Spätestens seit dem 9. Februar dieses Jahres hat das Gespenst unkontrollierten Wählerwillens ein Gesicht und einen Namen. An diesem Tag billigten die Wähler in der Schweiz eine stärkere Kontrolle der Zuwanderung aus dem Ausland und ließen in Brüssel und in den nationalen Hauptstädten alle Alarmglocken schrillen. Denn mit ihrem Entscheid setzten sich die Schweizer nicht nur über das europäische Grundprinzip der Personenfreizügigkeit hinweg. Sie boten auch ein schlechtes Beispiel für die eigenen Bürgerinnen und Bürger, die womöglich auf dumme Gedanken kommen könnten.

Diese Sorge war berechtigt. Denn während die Eliten in Politik und Presse kübelweise Abscheu und Empörung über die Eidgenossen auskippten, demonstrierten die Völker klammheimlich Zustimmung und Neid: Warum werden wir eigentlich nicht gefragt? Selten klaffte ein größerer Spalt zwischen Wählern und Gewählten, Lesern und Leitartiklern. Doch wie es sich eben mit Flaschengeistern verhält: Auch dieses Gespenst lässt sich nicht mehr zurückstopfen in sein Gefäß und sicher verkorken.

Es ist kein Zufall, dass sich vor allem europakritische Parteien die Forderung nach direkter Demokratie ans Panier geheftet haben, einschließlich der CSU, die neuerdings positive Erfahrungen mit Bürgervoten in Bayern gemacht hat. Mit keinem anderen Thema lassen sich Europa-Befürworter leichter in die Defensive jagen.

Entsprechend dünnhäutig, ja aggressiv reagiert das EU-Establishment: "Die spinnen, die Schweizer", twitterte intellektuell eher anspruchslos SPD-Vize Ralf Stegner.

"Da stimmt dieses Volk einfach ab", entfuhr es Rolf-Dieter Krause, der gefühlt seit Gründung der Montan-Union für die ARD aus Brüssel berichtet. Und Bundespräsident Joachim Gauck nutzte ausgerechnet einen Besuch in Bern, um seinen Schweizer Gastgebern darzulegen, dass die direkte Demokratie "gefährlich" sei: Vor allem bei komplexen Themen sei der Wähler halt überfordert. Ja, blöd ist er, der Wähler, wollte der frühere DDR-Bürgerrechtler damit sagen. Vor allem im Vergleich zur Brillanz eines Bundestagsabgeordneten.

In der Schweiz kamen Gaucks Bemerkungen verständlicherweise gar nicht gut an. Für die Eidgenossen ist die direkte Demokratie mehr als nur eine von mehreren Versionen demokratischer Regeln und Prozesse. Sie ist Teil ihrer Identität: In einem Gemeinwesen mit vier Sprachen und 26 sehr unterschiedlichen staatlichen Identitäten in den Kantonen ist die unmittelbare Beteiligung des Einzelnen an politischen Entscheidungen eine der wesentlichen Klammern, die diese Willensnation zusammenhält. Gemeinsame Anliegen werden gemeinsam entschieden, möglichst ungefiltert von Parteipräferenzen.

Vielleicht macht gerade dies den Reiz des Schweizer Modells für viele verdrossene Europäer aus. Denn es ist ja nicht die Politik, welche sie verdrießt - dagegen sprechen unzählige Bürgerinitiativen -, sondern die Herrschaft der Parteien. In der repräsentativen Demokratie, deren Vorzüge Gauck bei seinem Schweiz-Besuch lobte, gibt der Wähler seine Stimme einem Parteimitglied. Er tut das in der Erwartung - besser: in der Hoffnung -, dass dieses in den folgenden vier Jahren treuhänderisch damit umgeht und seine Interessen vertritt.

Vier Wählerbefragungen im Jahr

Doch wem fühlt sich der Abgeordnete im Zweifel mehr verpflichtet - dem anonymen Wähler, oder seinem Kreisverband, der ihn wieder aufstellt? Und was ist bei unvorhergesehenen politischen Entwicklungen, die am Wahltag nicht zu erkennen waren? Der Parlamentarier wird nicht seine Wähler befragen, was er tun soll. Der Schweizer Wähler aber wird zum konkreten Thema selbst befragt - viermal im Jahr, in Gemeinde, Kanton und Bund.

Die Frage ist, ob ein Land mit direktdemokratischer Tradition Mitglied der EU sein kann. Das ist in der Tat einer der Gründe, weshalb die Union bei den Eidgenossen nie populär war. Heute hat sie weniger Freunde denn je, mit Ausnahme von Wirtschaftsvertretern und überwiegend linken Politikern. Sie werfen der bürgerlichen Rechten vor, das Land vor fremden Einflüssen abschotten und in eine altväterliche Alpenfestung verwandeln zu wollen. Die Rechte wiederum verdächtigt die Linke, die Schweiz insgeheim durch eine Hintertür in die EU führen zu wollen. Beide Unterstellungen sind nur zum Teil richtig.

Natürlich kann man sich die Schweiz als EU-Mitglied vorstellen. In gewisser Weise ist sie sogar eine Art von Europa en miniature. Aber es wäre falsch, wenn sich die Schweiz dazu Brüsseler Vorgaben anpassen würde. Im Gegenteil: Europa müsste schweizerischer werden, mit mehr Föderalismus und mehr Bürgerbeteiligung.

So würde mehr Öffentlichkeit geschaffen, in der klarer, offener und ehrlicher debattiert werden würde. Die Politiker und Eliten müssten ihr Reformtempo den Sorgen der Menschen anpassen - also diese mehr mitnehmen und besser einbinden. Dann würde die reflexhafte Kritik am angeblich fehlenden Verantwortungsbewusstsein der Bürger und an den "unberechenbaren" Volksabstimmungen irgendwann von selbst in Leere laufen. Von dieser Entwicklung würden beide Seiten profitieren: die Schweizer und die Europäer.

Der Autor veröffentlichte zuletzt das Buch "Die Besserkönner", das sich mit dem gleichen Thema beschäftigt.

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