Süddeutsche Zeitung

Vogel des Jahres:Bei denen piept es

Selbst vor Wahlbetrug wird nicht zurückgeschreckt: Der "Vogel des Jahres" ist in Neuseeland ein Politikum. Der Gewinner ist ausgerechnet ein aggressiver Einzelgänger.

Von Jan Bielicki

"Turrr-turrr", gurren sie, ihr Ruf steht für Glück, Liebe und Frieden. Zu hören ist er in deutschem Gesträuch derzeit nicht, denn die Turteltauben sind ausgeflogen, die nur etwa amselgroßen Täubchen verbringen den Winter südlich der Sahara in Westafrika. Wenn sie aber im nächsten Mai oder Juni zurückkommen, haben sie neue Prominenz erlangt: Die Turteltaube ist der deutsche Vogel des Jahres 2020.

Den Titel vergibt hierzulande der Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Jedes Jahr stimmt ein etwa 35-köpfiges Gremium darüber ab, welcher Vogel jeweils im Oktober die Ehre bekommt - die eine eher zweifelhafte ist, weil sie darauf hinweisen soll, wie gefährdet seine Art ist. Der Bestand der in Südeuropa gerne gejagten Turteltaube ist in Deutschland seit 1980 um 90 Prozent zurückgegangen. Die öffentliche Wirkung der Vergabe ist allerdings begrenzt. Wer weiß noch, wer der diesjährige Titelträger ist? Ja, Shakespeares Romeo hat recht: Es ist die Lerche, und zwar die Feldlerche.

Am anderen Ende der Welt ist das anders. Den Neuseeländern ist die Wahl ihres Jahresvogels so wichtig wie die ihres Parlaments. Im Inselstaat stimmen Zehntausende darüber ab, welcher Vogel den Titel tragen darf. Wenn, wie in der vergangenen Woche, das Wahlergebnis verkündet wird, ist das ein Ereignis, das an Bedeutung einem Sieg der All Blacks im Rugby kaum nachsteht. Sogar Premierministerin Jacinda Ardern gratulierte dem Sieger, dem Gelbaugenpinguin, auch Hoiho genannt, weil der aggressive Einzelgänger so schreit. Er hatte gut 12 000 Stimmen erhalten, viel mehr, als es von seiner stark gefährdeten Art Individuen gibt.

Die Regierungschefin outete sich bei der Gelegenheit als Fan des Schwarzsturmvogels. Viele ihrer Landsleute gehen in ihrer Vogelbegeisterung noch weiter, wohl kein Wunder, werden die Neuseeländer doch gemeinhin selbst nach einem Vogel benannt, dem flugunfähigen Kiwi. Und so toben sich die Wahlkämpfer jedes Jahr nicht nur in den sozialen Netzwerken aus, in den Städten lassen sie sogar großflächige Plakate kleben, um für ihren gefiederten Favoriten zu werben.

Selbst vor Wahlbetrug schrecken manche Vogelfreunde nicht zurück. Im vergangenen Jahr etwa registrierte die Königliche Wald- und Vogelschutzgesellschaft einen zunächst unerklärlichen Stimmenzuwachs für die Krähenscharbe. Spaßvögel hatten sich per Bot in die Online-Abstimmung geschaltet, sie fanden es wohl witzig, dass dieser Kormoran auf Englisch Shag heißt - was sich auch mit "vögeln" übersetzen lässt, im durchaus nicht ornithologischen Sinne. Im benachbarten Australien wollten Fans in diesem Jahr mit unlauterer Manipulation den bunten Allfarblori nach vorne bringen - vergeblich, ihre Bot-Stimmen wurden entdeckt. Es siegte der Gürtelgrasfink mit seiner kohlschwarzen Kehle, dessen Haupthabitat nach dem Willen der Regierung ausgerechnet einem Kohletagebau weichen soll.

Beim Nabu verfolgt der Ornithologe Lars Lachmann den Publikumserfolg der antipodischen Abstimmungen "sehr interessiert". Für den Vogel des Jahres 2021 - er wird der 50. seit den Anfängen 1971 und damit ein Jubiläumsvogel sein - will der Nabu sein Vergabeverfahren ändern. Wer dann wie wählen darf, wollen sie aber noch nicht verraten.

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SZ vom 18.11.2019
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