Das vorherrschende Bild des Völkerrechts wird maßgeblich von kriegerischen Konflikten und den darin agierenden, besonders prominenten Personen geprägt. So entsteht vor dem Hintergrund entfesselter Gewalt und weitgehender Straflosigkeit der Eindruck, dass das Völkerrecht, einschließlich des Völkerstrafrechts, völlig wirkungslos sei. Zum einen werde das Völkerrecht permanent missachtet; zum anderen hätten die Rechtsbrüche keine Folgen, das Völkerrecht leide also an einem Durchsetzungsdefizit.
Ein Recht, das nicht beachtet wird und ohne Konsequenzen bleibt – stimmt das? Tatsächlich wird in vielen kriegerischen Konflikten das zwischenstaatliche Gewaltverbot verletzt. Das Gewaltverbot ist eine Fundamentalnorm der völkerrechtlichen Ordnung. Es wurde durch die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 in paradigmatischer Weise verletzt. Die meisten Beobachter sehen darin sogar, wegen der Art und Schwere der russischen Gewaltanwendung, einen verbrecherischen Angriffskrieg.
Nun hält dieser Angriffskrieg zwar bis heute an, doch ist er nicht folgenlos geblieben. Vielmehr hat es zu einer so noch nie da gewesenen Verurteilung des Aggressors geführt, insbesondere durch die UN-Generalversammlung. Ferner wurde Russland aus internationalen Gremien ausgeschlossen, etwa aus dem UN-Menschenrechtsrat und dem Europarat. Letztlich ist auch die gescheiterte Wiederwahl des russischen Richters, Kirill Geworgjan, zum Internationalen Gerichtshof (IGH) eine der Konsequenzen des russischen Völkerrechtsbruchs. Der IGH selbst hat im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes schon im März 2022 – mit 13 zu zwei Stimmen (gegen die Stimmen von Geworgjan und der chinesischen Richterin Xue Hanqin) – Russland zur Einstellung der „Sonderoperation“ gegen die Ukraine aufgefordert.
Die Reaktion auf Russland war wuchtig
Man wird also sagen können, dass die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf die russische Aggression die Fundamentalnorm des Gewaltverbots – gleichsam kontrafaktisch – bestätigt hat. Dass nicht alle Staaten Russland verurteilen und die meisten Staaten sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen, lässt sich mit der Bedeutung Russlands und mannigfachen (wirtschaftlichen und geopolitischen) Interessen erklären. Es stellt aber nicht die Existenz des Gewaltverbots an sich infrage. In der Tat, selbst Russland und seine engsten Verbündeten tun dies nicht, vielmehr bestreiten sie, dass es überhaupt zu einer Verletzung des Gewaltverbots gekommen sei, und berufen sich dabei unter anderem auf das Selbstverteidigungsrecht. Auch wenn das in der Sache nicht überzeugend ist, so zeigt der Versuch einer Rechtfertigung der Gewaltanwendung doch, dass die völkerrechtliche Verbotsnorm akzeptiert wird.
Ebenso wird anerkannt, dass Ausnahmen vom Gewaltverbot eng auszulegen sind. Neben dem Selbstverteidigungsrecht kann nur der UN-Sicherheitsrat die Anwendung militärischer Gewalt erlauben. Demgegenüber wird die sogenannte humanitäre Intervention als weitere Ausnahme vom Gewaltverbot (auf die sich etwa die Nato im Kosovokrieg im Jahre 1999 berufen hat) überwiegend abgelehnt. Und die Grundregeln für bewaffnete Konflikte werden von den Staaten ebenfalls anerkannt.
Man kann also festhalten, dass die völkerrechtlichen Grundnormen kriegerischer Konflikte allgemein akzeptiert sind. Die möglichen Verletzer dieser Normen bestreiten den Völkerrechtsbruch lediglich unter Berufung auf andere Tatsachengrundlagen.
Auf rechtspraktischer Ebene hängt die Durchsetzung völkerrechtlicher Normen von den Staaten beziehungsweise den von ihnen beherrschten Institutionen ab. Das wichtigste Organ ist hier der UN-Sicherheitsrat, der aber aufgrund des Vetorechts der ständigen Mitglieder (insbesondere Chinas, Russlands und der USA) seiner Aufgabe der Friedenswahrung nur höchst unzureichend nachkommt. Entsprechende Reformvorschläge liegen seit Langem auf dem Tisch, können jedoch nicht gegen den Sicherheitsrat durchgesetzt werden. Es sind mithin vor allem die genannten Vetomächte, welche die notwendige Reform des Sicherheitsrats verhindern – nicht das Völkerrecht als normative Ordnung.
Die Staaten sind die Akteure – und wollen die Rechtsbindung
Überhaupt sind die Staaten die entscheidenden Akteure im Völkerrecht. Sie verhandeln und verabschieden bilaterale oder multilaterale Verträge und setzen Staatenpraxis, die, getragen von einer Rechtsüberzeugung, Völkergewohnheitsrecht zum Entstehen bringt. Sie sind es, die das so geschaffene Völkerrecht, vor allem das Völkervertragsrecht, mit mehr oder weniger effektiven Durchsetzungsmechanismen versehen können. So kann zum Beispiel ein völkerrechtlicher Vertrag zur Streitschlichtung auf internationale Gerichte verweisen, insbesondere auf den IGH, wie dies bei den Genozid- und Apartheitskonventionen der Fall ist. Er kann auch auf Spezialgerichte wie den Hamburger Seegerichtshof (UN-Seerechtsübereinkommen) oder auf regionale Menschenrechtsgerichte verweisen.
Richtet man den Blick über die kriegerischen Konflikte hinaus auf weniger öffentlichkeitswirksame Bereiche des Völkerrechts, wird überdies schnell deutlich, dass die Regeln dort durchaus befolgt werden. Viele territoriale Streitigkeiten werden nicht mehr mit Waffengewalt, sondern gerichtlich gelöst. So wurden etwa die Dispute zwischen Chile und Bolivien wegen des (bolivianischen) Zugangs zum Pazifik oder zwischen Kolumbien und Nicaragua zur Reichweite des Festlandsockels vor dem IGH beigelegt. Natürlich gibt es Ausnahmen – Russland/Ukraine, Israel/Palästina –, doch diese bestätigen letztlich die Regel erfolgreicher völkerrechtlicher Streitbeilegung.
Der Vorwurf des Durchsetzungsdefizits greift auch deshalb zu kurz, weil er auf der Prämisse der absoluten Rechtsdurchsetzung beruht, die selbst in entwickelten Rechtsstaaten nicht der Realität entspricht. Auch hierzulande wird Recht nicht immer durchgesetzt: Zivilrechtliche Vollstreckungstitel scheitern am fehlenden Vermögenszugriff, Strafverfahren müssen wegen des Gesundheitszustands des Angeklagten eingestellt werden, bestandskräftige Verwaltungsakte (zum Beispiel Abschiebungsanordnungen) können nicht vollzogen werden.
Richtet man den Blick über Deutschland hinaus, so wird man in den mehr als 190 Staaten dieser Welt massive Rechtsdurchsetzungsdefizite konstatieren müssen. Das Völkerrecht erscheint in diesem Kontrast in einem viel günstigeren Licht. Das zeigt ein Vergleich völkerrechtlicher Makrokonflikte mit ihrer innerstaatlichen Entsprechung, also etwa mit dem Kampf gegen Drogenkartelle, Menschenhändlerringe, Schlepperbanden, Cyberkriminelle, aber auch gegen bewaffnete Banden und Milizen. Das innerstaatliche Recht wird in diesen Konflikten häufig weniger durchgesetzt als Völkerrecht in Makrokonflikten. Klar ist jedenfalls, dass transnationale Probleme aller Art – denken wir nur an den Klimaschutz – nur im Rahmen multilateraler Zusammenarbeit der Staaten gelöst werden können.
Das Schwert der Sanktionen
Verletzt ein Staat Völkerrecht, kann er dafür sanktioniert werden, beispielsweise durch den UN-Sicherheitsrat, durch den Rat der EU oder durch einzelne Staaten. Ein gutes Beispiel sind die Sanktionen gegen Russland wegen der Ukraine-Invasion – verhängt sowohl von der EU als auch den USA. Ein weiteres Beispiel wären – im Lichte des jüngsten Gutachtens des IGH zur völkerrechtlichen Situation des besetzen palästinensischen Gebiets – Sanktionen gegen Israel wegen seiner Besatzungspolitik oder gegen extremistische Siedler wegen Angriffen auf Palästinenser.
Solche Sanktionen können sich auch gegen Drittstaaten oder gegen juristische und natürliche Personen richten, die völkerrechtliches Unrecht unterstützen beziehungsweise zu ihm beitragen: mögliche Sanktionierung von Belarus und Nordkorea wegen Unterstützung des russischen Angriffskriegs; mögliche Sanktionierung von USA und Deutschland wegen militärischer Unterstützung von Israel, sofern Israel mit den gelieferten Gütern Verletzungen des humanitären Völkerrechts/Kriegsverbrechen begeht; mögliche Sanktionierung von Unternehmen, die den illegalen Siedlungsbau im Westjordanland unterstützen; Verbot der Einfuhr von Produkten aus illegal annektiertem oder besetztem Gebiet (so bezüglich Krim/Ostukraine, nicht aber Westjordanland).
Natürlich stößt das Völkerrecht auch hier an realpolitische Grenzen. Und erneut sind es die Staaten, die Sanktionen gegen Völkerrechtsverletzer verhängen oder eben verhindern. Jüngstes Beispiel: die Aufhebung der Sanktionen der Biden-Regierung gegen extremistische israelische Siedler durch Trump. Es sind ebenfalls Staaten, die das Instrument der Sanktionen aus rein machtpolitischen Gründen einsetzen, ohne dass der Adressat der Sanktionen überhaupt ein völkerrechtliches Unrecht begangen hätte. Jüngstes Beispiel: die neuerlichen US-Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen der Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant durch präsidiale Verordnung vom 6. Februar. Die USA knüpfen damit an den frontalen Angriff auf den IStGH am Ende der ersten Trump-Präsidentschaft an und tun es damit Russland gleich, das strafrechtliche Ermittlungen gegen den Ankläger und Richter des IStGH eingeleitet hat.
Der IStGH steht in der Nürnberger Tradition, er wird maßgeblich von Deutschland unterstützt und steht paradigmatisch für den Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster völkerrechtlicher Verbrechen. Die Rettung des Gerichts liegt in der Hand seiner 125 Vertragsstaaten, allen voran der EU als seinem wirtschaftlichen und politischen Schwergewicht.
Den Protagonisten einer völkerrechtsbasierten Ordnung, zu denen sich Deutschland seit jeher zählt, sollte jedenfalls daran gelegen sein, die internationalen Gerichte vorbehaltlos zu unterstützen. Sie stehen für die Stärke des Rechts statt für das Recht des Stärkeren, sie verwirklichen den Grundsatz der gleichen Anwendung des Rechts gegenüber jeder Person: ob mächtig oder schwach, reich oder arm, Freund oder Feind. Nur mit starken internationalen Gerichten hat die regelbasierte, multilaterale Weltordnung eine Zukunft.
Prof. Kai Ambos lehrt in Göttingen Straf- und Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht. Er ist Autor vieler Bücher und seit 2017 Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag.