Visionäre:Wer Visionen hat, muss nicht zum Arzt gehen

Sicherheitskonferenz München 2016Illustrationen: Stefan DimitrovFotos: alle dpa

Illustration: Stefan Dimitrov

In Krisenzeiten haben Heilsversprechen Konjunktur. Das kann übel ausgehen. Doch manchmal verhilft erst die Utopie einer guten Idee zum Durchbruch.

Von Stefan Ulrich

Die Zeiten, da die Münchner Sicherheitskonferenz "Wehrkundetagung" hieß, sind vorbei; und die Themen, über die heute gesprochen wird, wirken vielfältiger als früher. Ging es einst fast nur um klassische Außen- und Sicherheitspolitik, diskutieren die Teilnehmer inzwischen auch über Klimawandel, Wirtschaftsprobleme oder Energieversorgung. Allerdings steht die Konferenz bei Kritikern weiterhin im Ruf, eine Hardcore-Veranstaltung von Militärstrategen und visionslosen Realpolitikern zu sein.

Ein Blick ins Programm zeigt, dass die Realität komplexer ist. Auf der diesjährigen Konferenz wird beispielsweise der Greenpeace-Chef Kumi Naidoo sprechen. Andere nutzen die Aufmerksamkeit, die diese Tagung auf sich zieht, für eigene Auftritte. So kommt der 12. Gyalwang Drukpa nach München, um, wie es heißt, "auf aktuelle weltpolitische Entwicklungen positiv einzuwirken". Seine Heiligkeit ist das spirituelle Oberhaupt der tibetisch-buddhistischen Drukpa-Tradition und Gründer des humanitären Netzwerkes Live to Love. Er verkündet, was alle gern hören: "Nichts ist unmöglich in dieser Welt, vorausgesetzt wir halten zusammen."

Die Realpolitiker wurden schon immer von Visionären herausgefordert, die das Weltgeschehen in eine große Erzählung packen, Erlösung von allen oder vielen Übeln versprechen und an einem Utopia bauen, das wahlweise als Himmlisches Jerusalem, Sonnenstaat oder klassenlose Gesellschaft angepriesen wird. Besonders geschickte Politiker schaffen es, ihre Botschaften ebenfalls in visionäre Gewänder zu kleiden. So stürmte Barack Obama mit der Verheißung einer friedlicheren Welt und dem omnipotenten Slogan "Yes, we can" das Weiße Haus. Dort ereilte ihn das Schicksal vieler Visionäre, die zu Macht gelangen: Er rieb sich an der Realität auf.

Wer kein Narrativ zu bieten hat, gilt als Langweiler

Dennoch fordern Wahlvolk und Weltöffentlichkeit von den Mächtigen immer wieder Visionen ein. Wer kein Narrativ zu bieten hat, gilt als Langweiler und wird gern bei nächster Gelegenheit abgewählt. George Bush der Ältere war so ein Fall. Als der brav-blasse US-Vizepräsident 1987 erwog, bei der Präsidentschaftswahl im Jahr darauf anzutreten, riet ihm ein Freund, sich doch ein paar Tage nach Camp David zurückzuziehen, um einige Ideen für das Land auszubrüten. Doch Bush tat dies als "the vision thing" ab. Er siegte zwar 1988, verlor dann aber vier Jahre später gegen Bill Clinton, der sich besser auf das Visionszeug verstand.

Ein Verwandter des Visionärs ist der Globalweise, der von den Bürgern als Übervater verehrt und den scheinbar schnöden Realpolitikern als positives Gegenbild vorgehalten wird. Ein Blick in die Sachbuch-Bestsellerliste des Spiegel zeigt eindrucksvoll, um wen es hier geht. Unter den zehn meistverkauften Hardcover-Titeln finden sich ein Appell des Dalai Lama, die persönliche Bilanz Helmut Schmidts, ein Buch über Papst Franziskus sowie ein Werk, das der Pontifex selbst geschrieben hat.

Weltdeutungen und Visionen sind zu einem lukrativen Geschäftsfeld geworden, das vielen Menschen Lohn und Brot verschafft. Davon zeugen die so genannten Denkfabriken, vulgo Thinktanks genannt. Sie hielten sich in den vergangenen Jahrzehnten an den Auftrag Gottes: "Seid fruchtbar und mehret Euch." Ihren Ausgang nahmen sie, wie so viele Trenderscheinungen, in den Vereinigten Staaten. Dort entstanden vor hundert Jahren die ersten Denkfabriken wie der Council on Foreign Relations oder die Brookings Institution. Heute arbeiten laut einem Forschungsbericht der Universität von Pennsylvania allein in den USA 1835 Think- tanks. In Europa sind es bereits 1770.

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