Süddeutsche Zeitung

Višegrad in Bosnien:Ort der Schönheit, Ort des Mordens

Es war einmal eine multikulturelle Stadt: Višegrad an der Drina. Im Bosnienkrieg brach das Grauen über die Muslime dort herein. Die Erinnerung daran erklärt den Zorn auf Peter Handke, der davon wenig hören wollte und ein Bad im Fluss nahm.

Von Tobias Zick

Man kann sich schwer einen Ort ausdenken, an dem so epische Grausamkeiten begangen wurden und der zugleich so schön ist. Auf elf steinernen Bögen schwebt die Brücke über der Drina, seit mehr als vier Jahrhunderten, und verbindet die beiden Ufer dieses Flusses, der über die Epochen eine tosende Grenze zwischen Orient und Okzident formte.

Heute gibt es in Bosnien viele Brücken, und die Drina ist kein alles mitreißender Strom mehr, sondern zwischen Staumauern verstummt. Schweigend steht das Wasser an diesem Herbstnachmittag unter den sanft ergrauten Steinbögen, und auch auf der Kapija, der balkonhaften, mit Bänken zum Verweilen einladenden Verbreiterung in der Mitte der Brücke, ist es ruhig, bis auf die rasselnden und knatternden Plastikspielzeuge der Kinder. Ein Junge schwingt ein orangefarbenes Mini-Maschinengewehr, sein Kumpel kommt mit einem lärmenden gelben Auto in der Hand den Spaziergängern entgegengelaufen.

"Soll ich euch die Tafel vorlesen?"

Dann beginnt der Junge, elf Jahre ist er und heißt Vehbija, ein muslimischer Name, zu rezitieren, was da in arabischer Schrift in Stein gemeißelt steht. "Siehe, Mehmedpaša, der Größte unter den Weisen und Großen seiner Zeit / Erfüllte das Gelöbnis seines Herzens / Und mit seiner Fürsorge und seinem Eifer / Erbaute er eine Brücke über den Drinafluss." Eine umfassende Huldigung des Großwesirs, der im 16. Jahrhundert dieses Wunderwerk errichten ließ. Nein, nein, er könne kein Arabisch lesen, schiebt der Junge bescheiden hinterher, er habe die Übersetzung auswendig gelernt, aus dem Buch von Ivo Andrić.

Im heutigen Spa-Hotel folterten und vergewaltigten serbische Milizen bosnische Frauen

Natürlich, "Die Brücke über die Drina", das Jahrhundertwerk des nobelpreisgekrönten jugoslawischen Schriftstellers, der seine Kindheit hier in Višegrad verbrachte und die Brücke zur Hauptfigur seiner Erzählung machte. Die ersten hundert Seiten genießt man besser auf nüchternen Magen; man erlebt etwa die Pfählung eines serbischen Bauern, die der osmanische Befehlshaber angeordnet hat, weil der Mann sich der Zwangsarbeit widersetzt und den Brückenbau sabotiert hatte.

Das "Knarren und Knirschen" seines Körpers hallt durch die Buchseiten, während der Pfahl durch ihn getrieben wird, Hammerschlag für Hammerschlag, sorgsam an den lebenswichtigen Organen vorbei, damit der Tod ihn ja nicht zu früh erlöst. Dem Sterbenden entweicht noch der Fluch: "Türken auf der Brücke ... wie Hunde sollt ihr verrecken." Damit ist der Ton erst einmal gesetzt in diesem Geschichtsgemälde einer komplexen Weltregion. Mit fortschreitender Lektüre wird es etwas leichtfüßiger; die über die Jahrhunderte abgetrennten und aufgespießten Köpfe werden eher beiläufig auf der Brücke aufgereiht, es flanieren Spieler, Beamte und Liebeskranke darüber, und dann kommen die Österreicher und stülpen der bosnischen Stadt ihren effizienten Verwaltungsapparat über, bis sie im Ersten Weltkrieg Teile der Brücke sprengen.

Aber war da nicht noch was? Dinge, über die Andrić nicht schreiben konnte, weil sie erst nach seinem Tod im Jahr 1975 passiert sind? Die alle Grausamkeiten der vorigen Jahrhunderte überschatten?

Višegrad, so hat es das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien formuliert, war "einer der umfassendsten und skrupellosesten Kampagnen ethnischer Säuberung im bosnischen Konflikt ausgesetzt." Serbische Milizen vertrieben und massakrierten muslimische Einwohner. Will man genauer wissen, was 1992 hier passierte, muss man lange suchen. Die "kleine Stadt für einen großen Urlaub", wie sie sich in den Tourismus-Prospekten nennt, setzt sehr viel daran, Reisenden den Blick auf ihr jüngstes und hässlichstes Kapitel zu verstellen. In der Broschüre für Besucher erfährt man allerlei über das Leben von Ivo Andrić und dessen Schule, die man besuchen kann, über das "Beer Bike", auf dem man jetzt biertrinkend als Gruppe über die osmanische Brücke radeln kann, und über die heißen Quellen im Wald, mit ihrer segensreichen Wirkung bei Gelenk- und Atemwegsleiden. Dass das dortige Spa-Hotel seinerzeit den serbischen Milizen als Vergewaltigungs- und Folterzentrum für muslimische Frauen diente, bleibt unerwähnt. Ebenso Zahlen wie diese: 1991 waren 63 Prozent der Bewohner von Višegrad Muslime. Sechs Jahre später nur noch weniger als ein Prozent.

Der Träger des Deutschen Buchpreises 2019, Saša Stanišić, stammt aus Višegrad. In seinem Buch "Herkunft" erzählt er, wie er vor dem Krieg mit seinen Cousinen dort auf einer Treppe saß, Kaufladen spielte und Puppen verhaute. Die Cousinen leben heute in Frankreich, er in Hamburg. "Über Višegrad sprechen wir seit Višegrad nicht mehr", schreibt er.

Die Republika Srpska, die 1995 per Dayton-Vertrag beschlossene serbische Teilrepublik Bosniens, sei "in einem Gebiet erschaffen worden, in dem nie zuvor ein serbischer Staat existiert hatte", jubelte damals Serbiens Präsident Slobodan Milošević, der den Konflikt geschürt hatte: "Das ist eine historische Leistung." So leben Serben und Muslime heute in zwei Ländern, aber unter dem Dach eines Staates vereint; Višegrad liegt im serbischen Teil.

Hat man Glück, trifft man in der Stadt auf Menschen wie Edin Karaman. Er ist bosnischer Muslim und arbeitet als Beauftragter der Regierung für die Unterstützung von Rückkehrern. Von Menschen also, die damals rechtzeitig vor den Massakern der serbischen Milizen geflohen sind - und beschlossen haben, die "ethnische Säuberung" ihrer Heimat nicht als Dauerzustand zu akzeptieren. Karaman, ein groß gewachsener Mann mit blauen Augen und aufrechter Körperhaltung, schreitet einen Hügel hinauf. Vorbei am muslimischen Friedhof, auf dem die Gräber mit dem Todesjahr 1992 ein eigenes, großes Feld bilden. An einem Grabstein lehnen zwei Plüschbären, der Junge, der darunter begraben liegt, wurde gerade sieben Jahre alt. "Sein Vater war ein Freund von mir", sagt Karaman. Das Wort "Genozid" haben die Behörden aus der weißen Stele am Eingang herausmeißeln lassen, Hinterbliebene haben es in schwarzen Lettern neu draufgepinselt. Die wiederum sind jetzt mit weißer Farbe überstrichen. "Es ist ein ständiges Ringen um die Wahrheit", sagt Edin Karaman.

Er biegt auf einen Trampelpfad ein, der auf ein Haus mit frisch getünchter weißer Fassade zuläuft. Nur wer nah herangeht, sieht die Schmauchspuren an der unrenovierten Außenwand des Untergeschosses. Mindestens 59 Menschen sind hier am 14. Juni 1992 lebendig verbrannt, sie wurden von serbischen Milizen hineingetrieben und dann mit Sprengsätzen beworfen. Unter den Toten war laut Zeugenaussagen ein zwei Tage altes Baby. Ähnliches passierte in einem Dorf nahe Višegrad, eine Frau entkam dem Massaker lebend, Edin Karaman trug sie durch den Wald an einen sicheren Ort, "sie hat bei jeder Berührung geschrien", erzählt er, "ihre Haut unter den Verbänden war total verbrannt."

Auf dem Nachbargrundstück klaubt eine alte Frau ein paar Scheite Brennholz zusammen. Auf die Frage über den Zaun hinweg, was hier 1992 passiert sei, erstarrt sie. "Ich war während des Krieges nicht hier", sagt sie und schaut durch ihre dicken Brillengläser. "Aber ich kann Ihnen sagen: Ich wohne hier seit vierzig Jahren, ich habe nie mit irgendjemandem Probleme gehabt." Dann verschwindet sie nach drinnen.

Die Seite der serbischen Mörder verklärt Peter Handke - er sei "ein Apostel der Wahrheit"

Muslimische Bosnier haben das Haus mit eigenem Geld herrichten lassen, um es zu schützen; die Stadtverwaltung hatte schon Pläne, die Ruine abzureißen und eine Straße darüber hinweg zu bauen. Von der Fassade allerdings laufen Spuren von Eiweiß und Dotter herab; jemand muss die Eier erst vor ein paar Tagen gegen die Wände geworfen haben. "Da sieht man's", sagt Edin Karaman. "Es schwelt alles weiter."

Just an diesem Tag im Herbst 2019 hat ein Gericht in der Hauptstadt Sarajevo, drei Autostunden westlich, einen Mittäter dieses Brandmassakers zu 20 Jahren Haft verurteilt. "So ein Urteil beruhigt uns natürlich", sagt Karaman. "Aber wirklichen Frieden werden wir erst finden, wenn alle Mittäter verurteilt sind. Und wenn die Knochen von allen Vermissten gefunden sind." Seit dem Bürgerkrieg gelten in Bosnien noch mehr als 6000 Menschen als vermisst. Die Überreste von mehr als 300 Toten wurden 2010 im Drina-Stausee unterhalb von Višegrad gefunden, als der Wasserspiegel für Wartungsarbeiten gesenkt wurde. Auch die Gebeine von Edin Karamans Cousin, er war Imam in der Hauptmoschee von Višegrad, lagen auf dem Seegrund. "Einzelheiten wissen wir nicht", sagt Karaman, "ob er auf der Brücke erschossen wurde oder irgendwo am Ufer."

Was hält er davon, dass all diese Geschichten in der offiziellen Selbstdarstellung in Višegrad keine Rolle spielen? Dass die Stadt heute voller Symbole des serbischen Nationalismus ist? "Was soll ich dazu sagen? Ich habe allmählich keine Kraft mehr." Dann erzählt er vom 10. März dieses Jahres; an dem Tag sind Hunderte serbische Nationalisten in Uniformen durch die Stadt marschiert, unter seinem Bürofenster entlang, haben einen Tschetnik-Führer des Zweiten Weltkriegs hochleben lassen, der Tausende Menschen im Drinatal ermorden ließ; sie sangen Liedzeilen wie "Die Hölle wird wiederkommen" und "Die Drina wird wieder blutig sein".

Will man Karamans Vorgesetzten sprechen, den Bürgermeister von Višegrad, muss man zwischen allerlei Kulissen hindurch. Die Stadtverwaltung hat sich in einem Neubau mitten in "Andrićgrad" niedergelassen, einer künstlichen Geschichtslandschaft, die der serbische Regisseur Emir Kusturica mit Geldern der bosnisch-serbischen Regierung auf einer Landzunge bauen ließ, wo der Nebenfluss Rzav in die Drina mündet. Kusturica wolle hier Ivo Andrićs Werk verfilmen, heißt es. Wobei es so aussieht, als würde die Geschichte hier sehr einseitig geschildert. Auf einem riesigen Wandmosaik ziehen der Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, und Kusturica gemeinsam an einem Seil; wer am anderen Ende zieht, sieht man nicht. Ein anderes Mosaik zeigt Gavrilo Princip, den serbischen Nationalisten, der 1914 in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erschoss und so den Ersten Weltkrieg mit auslöste.

Darunter hängt ein Plakat, das eine Veranstaltung von Kusturica ankündigt: "Peter Handke - Apostel der Wahrheit". Handke, der 1996 in Višegrad war und in seinem "Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise" davon erzählt. Der darin Berichte der New York Times über Massaker an Muslimen vier Jahre zuvor anzweifelt; etwa die Zeugenaussage einer Frau, die berichtet, wie serbische Milizen ihre Mutter und Schwester erschossen und von der Brücke in die Drina warfen. Der außerdem von seinem eigenen kühlenden Bad in der Drina erzählt, in jenem Sommer 1996, wobei die Erfrischung so ganz unbeschwert dann doch nicht war: "Kein Wasser, siehe die Wasserleichengeschichten, in den Mund kommen lassen!", notierte Handke.

Mladen Đjurević, der Bürgermeister, ein kantiger Mann mit sorgfältig konturiertem Dreitagebart, nimmt am Ende eines Besprechungstisches Platz, auf dem vier Fähnchen aufgereiht sind: Das Stadtwappen von Višegrad. Die Flagge der Republika Srpska, der serbischen Teilrepublik im heutigen Bosnien. Die der benachbarten Republik Serbien. Und die russische Staatsflagge. Er habe schlechte Erfahrungen mit der ausländischen Presse, sagt er als Erstes: Es sei mal eine britische Reporterin da gewesen, die ihn alles Mögliche zu Ivo Andrić und der Brücke gefragt habe, und am Ende habe sie vor allem über den Bosnienkrieg geschrieben. "Das ist nicht fair", sagt Đjurević mit festem Blick auf den Besucher. Ein paar kritische Fragen werden aber doch erlaubt sein. Wenn man schon so einen Kulissenpark aufbaut wie dieses Andrićgrad hier - würde dann, der historischen Korrektheit halber, neben die sehr imposante serbisch-orthodoxe Kirche nicht auch eine Moschee gehören?

Đjurević schaut zu seiner Assistentin, dann sagt er: In der Stadt seien doch durchaus zwei Moscheen wieder aufgebaut werden. Und schließlich gebe es ja auch das Denkmal für Mehmedpaša Sokolović, den von hier stammenden Großwesir, der damals die berühmte Brücke bauen ließ.

Gedenkstätten mag man nicht so sehr in Višegrad. Lieber spricht man vom Craft-Beer-Festival

Und was ist mit dem Haus in der Pionierstraße, wo Dutzende Menschen lebendig verbrannt wurden? Dessen Fassade heute mit Eiern besudelt ist? Wäre es nicht eine Idee, das Haus vor Übergriffen zu schützen und als Gedenkstätte in den Prospekten und Karten für Touristen zu verzeichnen?

"Das hat mit Tourismus nichts zu tun", sagt der Bürgermeister, seine Miene verschattet sich. Nach ein paar Sekunden Stille hellt sie sich wieder auf: "Wussten Sie, dass wir kürzlich unser erstes Craft-Beer-Festival veranstaltet haben? Es waren auch vier Jurymitglieder aus München da."

Ein paar Hundert Meter weiter steht Edin Karaman am Ufer der Drina und schaut auf das gestaute Wasser. "Was sollen wir machen", sagt er: "Das Leben muss weitergehen. Entweder wir entscheiden uns dafür zusammenzuleben oder wir gehen für immer." Wobei Letzteres für ihn keinesfalls infrage kommt: "Wir sind doch seit Jahrhunderten hier."

Ivo Andrić hat einen Satz in seine Brücken-Chronik geschrieben, der wohl bis heute gilt: "Die Brücke änderte sich weder mit den Jahren noch mit den Jahrhunderten, noch mit den schmerzlichsten Wendungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. All das ging über sie hinweg, wie das unruhige Wasser unter ihren glatten und vollkommenen Bögen dahinfloss."

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Quelle:
SZ vom 07.12.2019/odg
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