Visa-Skandal:"Kalter Putsch gegen die Gesetzeslage"

Menschenhandel, Schwarzarbeit, Zwangsprostitution - das Auswärtige Amt sah zu, und Joschka Fischer schweigt.

Von Hans Leyendecker

Siebenundzwanzig lange Jahre war Fritz Grützmacher, 66, Angestellter des Auswärtigen Amtes (AA), und er hat die Welt kennen gelernt: In Thessaloniki, Belgrad, Paris, Hongkong und vielen anderen Orten hat er gearbeitet, bis er im Januar 2000 an die deutsche Botschaft nach Kiew beordert wurde.

Joschka Fischer, Reuters

Joschka Fischer

(Foto: Foto: Reuters)

Seine letzte Station war ein ihm vertrauter Ort. Schon in den neunziger Jahren war er in der ukrainischen Hauptstadt gewesen, doch diesmal war alles anders. Grützmacher arbeitete in der Visa-Abteilung als so genannter Bescheider, doch zur "genauen Prüfung der Anträge", sagt er, "blieb gar keine Zeit mehr". Wenn Kollegen im Urlaub waren, musste er in einem Monat schätzungsweise 14000 Anträge bearbeiten.

Denn selbst in den kleinsten ukrainischen Dörfern hatte sich schon im Jahr 2000 herumgesprochen, dass die Deutschen neuerdings sehr großzügig bei Visa-Anträgen waren, und organisierte Banden machten daraus ein einträgliches Geschäft.

"Im Zweifel" sei "für die Reisefreiheit" zu entscheiden, hatte das AA in einem Erlass den Botschaften mitgeteilt, und etliche Bedienstete verstanden das als Anweisung. Weltoffen, liberal wollte die Bundesregierung sein. Aber ist weltoffen ein anderes Wort für Chaos?

Kurz vor dem Kollaps

Grützmachers Obere sendeten aus Kiew fortwährend Alarmnachrichten an das Auswärtige Amt in Berlin. Zum Beispiel im März 2002: "Zustände an der Visastelle der Botschaft sind chaotischer und unkontrollierbarer als prognostiziert... Mafiöse Strukturen haben sich in kürzester Zeit des Schlangenmanagements bemächtigt und verlangen bis zu fünfzig Dollar für einen sicheren Platz innerhalb des täglichen Kontingents. Dieser dramatische Auswuchs sowie Verhalten und sonstige Umstände" ließen es als wahrscheinlich annehmen, dass der ganz überwiegende Teil der Antragsteller "keine legalen Reisezwecke verfolgt, sondern illegale Arbeitsaufnahme im Schengen-Raum beabsichtigt".

Folglich müsse mit einer "verstärkten illegalen Einreise gerechnet werden". Durch die vom Auswärtigen Amt "gewünschte Lösung der Visaprobleme" stehe die Botschaft "kurz vor dem Kollaps".

Hilfegesuche an das Auswärtige Amt gab es auch von den deutschen Botschaften in Baku, in Minsk, in Moskau, und seltsamerweise sind alle Anfragen in Berlin zunächst ignoriert worden. Dabei dämmerte nicht nur den Bescheidern und Prüfern des mittleren Dienstes, dass die deutschen Papiere längst Freibriefe für die Mafia aus dem Osten waren.

Ein wirklich schmutziges Geschäft lief da ab. Zehntausende der angeblichen Touristen aus dem Osten wurden von professionellen Menschenhändlern zur Schwarzarbeit oder zur Zwangsprostitution in den angeblich goldenen Westen gelotst. Was da mit behördlicher Hilfe passiere, notierte ein Beamter des Bundeskriminalamts im Jahr 2001 fassungslos, könne auch als "moderne Form der Sklaverei bezeichnet werden".

Unappetitliches Knäuel

Der Visa-Erlass, der den Händlern die Schleusen öffnete, ist inzwischen zum Politikum geworden, und niemand kann heute sagen, wer am Ende in der Bundesregierung die politische Verantwortung für Beihilfe beim Menschenhandel übernehmen muss. Der von der Union einberufene Untersuchungsausschuss des Bundestags zielt auf Bundesaußenminister Joschka Fischer, der in diesen Tagen beredt schweigt.

Die Basis der Grünen ist verunsichert. Beim Aschermittwoch der NRW-Grünen im "Alten Wartesaal" in Köln verteidigte die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth am Mittwoch die "liberale Ausländerpolitik" ihrer Partei und forderte die Parteifreunde auf, jetzt "gegenzuhalten".

Nur wie? Außer forschen Parolen wie der Behauptung, die Visa-Erleichterung habe der Familienzusammenführung gedient, gibt es von den Grünen vorwiegend gewundene Stellungnahmen, Schwaden von Schutzbehauptungen - das kannten sie bislang nur vom politischen Gegner.

"Kalter Putsch gegen die Gesetzeslage"

Im Alten Wartesaal zu Köln gab es freundlichen Beifall, und gleichzeitig wucherte die Skepsis, ob die Führung der Partei das Problem nicht zu lange unterschätzt habe - was noch eine Untertreibung wäre. Der Ausschuss hat die ersten Akten gesichtet, und schon die flüchtige Lektüre lässt ahnen, dass bei diesem Stoff das Publikum nicht - wie in anderen Untersuchungsausschüssen - nach kurzer Zeit vor Langeweile einnicken wird.

Eine Osteuropäerin zeigt ihren Pass mit Schengen-Visum, dpa

Eine Osteuropäerin zeigt ihren Pass mit Schengen-Visum

(Foto: Foto: dpa)

Allein die Kabalen zwischen Auswärtigem Amt und Bundesinnenministerium könnten Material für einen ganzen Ausschuss liefern. Warum hat das AA die Warnungen von Bundeskriminalamt und Grenzschützern missachtet? Warum aber auch hat Otto Schily alles am Ende doch so lange laufen lassen? Und warum hat das Kanzleramt nicht interveniert? Sollten die Grünen ihre Spielwiese bekommen? Wen kümmern schon Visa für Menschen, die hinter dem Eisernen Vorhang gelebt haben?

Der Fall ist ein unendlich verfilztes, unappetitliches Knäuel, in den ein Teil der politischen Klasse des Landes verwickelt ist. Eine Lawine von Papier rollt an, die jede Aussicht auf einen friedlichen Schluss unter sich begraben wird: Ermittlungsverfahren, Urteile, BKA-Warnungen, Protokolle, Handakten. Die Ausschussmitglieder werden aufpassen müssen, bei den vielen Gaunern, Opfern und schweren Helden am Ende nicht den Überblick zu verlieren.

Dass der Skandal in seiner Wucht überhaupt erkannt wurde, liegt an dem Kölner Richter Ulrich Höppner, der im Februar 2004 das Urteil in einem Schleuserprozess gesprochen und dem Außenministerium "schweres Fehlverhalten" vorgeworfen hatte. Es hat dann noch eine Weile gedauert, bis die politische Szene den Fall als Affäre erkannt hat.

"Versagen der Behörden flächendeckend und allumfassend"

"Bei dem Fehlverhalten", so Höppner in dem Urteil, "handelte es sich nicht um Entgleisungen im Einzelfall. Vielmehr war das Versagen der mit den anstehenden Fragen beschäftigten Behörden flächendeckend und allumfassend." Der Visa-Erlass sei ein "kalter Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage" gewesen.

Haben Politiker und Beamte fahrlässig gehandelt? Waren sie ideologisch verblendet? Oder handelten sie vorsätzlich? Nur ein kleiner Ausschnitt der großen Affäre lässt ahnen, was da in den nächsten Monaten noch auf die Regierenden zukommen kann: Warum beispielsweise haben Regierungsstellen eng mit Firmen zusammengearbeitet, in denen Leute saßen, über die die Polizei eine ganze Menge wusste - und auch vor ihnen gewarnt hat?

Fest steht: Der Missbrauch der Visa wurde zu einem Massendelikt, als im Mai 2001 mit Billigung von Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt Reiseschutzpässe des schwäbischen Versicherungskaufmanns Heinz Martin Kübler eingeführt wurden, der eine Firma namens Reise-Schutz-AG gegründet hatte. Wer Küblers Reiseschutzpass vorweisen konnte, bekam in aller Regel ein Visum.

"1500 Dollar für die Schleusung"

Bereits ein paar Monate später notierte das Bundeskriminalamt (BKA), dass für die Reiseschutzpässe in Osteuropa bis zu 1000 Euro gezahlt würden. Angebliche Touristen aus Moldawien oder der Ukraine zahlten das viele Geld, obwohl sie nur durchschnittlich 60 Euro im Monat verdienten.

Im September 2001 beschrieb ein BKA-Beamter in einem Arbeitspapier das Desaster: Die angeblichen Touristen müssten "kriminellen Organisationen pro Person bis zu 1500 Dollar für die Schleusung" zahlen.

Wenn sie das gemacht hätten, würden sie fortan "unter Androhung oder Ausübung von Gewalt permanent ausgebeutet. Die Organisatoren schleusen junge Frauen mit dem Zweck der sexuellen Ausbeutung."

"Kalter Putsch gegen die Gesetzeslage"

Kübler pflegte beste Beziehungen ins Auswärtige Amt und ins Innenministerium, und die schützten ihn auch gegen Kritik. Im August 2001 wies ein Mitarbeiter der Botschaft in Kiew darauf hin, dass mit den Pässen der Reise-Schutz-AG in der Ukraine Missbrauch getrieben werde und bat um Überprüfung der Firma und deren Mitarbeiter.

Gegen Kübler lag nichts vor, zwei seiner damals engsten Mitarbeiter waren dem BKA allerdings bekannt. Der eine, ein gebürtiger Russe, war vor Jahren wegen Verdachts des Betruges und der Geldwäsche aufgefallen, der andere, ein gebürtiger Ukrainer, war offenkundig Knoten in einem kriminellen Netzwerk gewesen, das mit gefälschten deutschen Kfz-Doppelkarten zwielichtige Autokäufer in Russland beliefert haben soll.

"Aus Sicht des Bundeskriminalamts ist ungeklärt, ob Kübler" die Erfahrungen der beiden nutzen wollte oder ob diese für ihre Geschäfte "eine legale Fassade" brauchten, fasste das BKA später seine Recherchen zusammen. Mehr als 360Vertriebspartner der Reise-Schutz AG wurden ermittelt. "Zu einem großen Teil davon liegen polizeiliche Erkenntnisse vor" schrieb das BKA.

"Fehler in der wirtschaftlichen Geschäftsgier"

Küblers Geschäfte blieben dennoch von politischen Seitenwinden unbehelligt. Seine beiden etwas obskuren Mitarbeiter waren Ende 2001 ausgestiegen und hatten eine eigene Firma gegründet. Der Kaufmann aus Schwaben machte weiterhin Terminvorgaben für die Botschaft in Kiew und erhielt von einem Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums eine Einladung für Treffen mit potenziellen rumänischen Partnern. ("Anschließend wird die Gelegenheit geboten, sich untereinander bei einem Glas Wein besser kennen zu lernen".)

Am 25. Juni 2002 schaute die Staatsmacht bei Kübler vorbei und durchsuchte seine Wohnung und sein Büro. Gegen ihn war ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz eingeleitet worden. Kübler unterrichtete sofort die Botschaft in Kiew über den Besuch. In ein paar Wochen muss er sich in Köln wegen Beihilfe zu bandenmäßigen Schleusungen vor Gericht verantworten.

Wer hat in den Botschaften gewusst, mit wem der Schwabe Geschäfte gemacht hat? Am 25. November 2002 bekam die Kölner Staatsanwaltschaft, die Auskunftsersuchen an deutsche Botschaften und Generalkonsulate gestellt hatte, Post von der deutschen Vertretung in Nowosibirsk. Inhalt des Päckchens waren eine Diskette sowie eine 38-seitige Liste mit den Namen von Visa-Antragstellern.

Dazwischen war ein unauffälliger Zettel in DIN-A-5-Größe versteckt, der oben und unten abgeschnitten war. "Herr Kübler", schrieb der unbekannte Verfasser, "machte in der wirtschaftlichen Geschäftsgier (sage ich mal) den Fehler, Blanko-Formulare den Vertriebspartnern anzubieten beziehungsweise wurde in diesem Punkt von einem Mitarbeiter überrollt. Was dies nach sich ziehen kann, sehen wir jetzt."

Das saß. Am 28. Juni 2002 wurden daraufhin die deutschen Botschaften vom AA angewiesen, nicht mehr die Pässe der Reise-Schutz-AG zu verwenden. Ein paar Wochen später, im August 2002, drängte eine Berliner Firma namens Flimpex GmbH ins Geschäft.

"Kalter Putsch gegen die Gesetzeslage"

Das Unternehmen wollte mit staatlicher Genehmigung Papiere verkaufen, die ähnlich wie die Reiseschutzpässe funktionierten. Am 8. August 2002 wurde die Grenzschutzdirektion Koblenz vom Bundesinnenministerium gebeten, die neuen Reiseschutzpässe auf Fälschungssicherheit und die Firmenmitarbeiter auf Bonität zu prüfen.

"Im Ergebnis kann festgestellt werden", steht in einem im September 2002 verfassten Bericht, dass die Musterexemplare der Reiseschutzpässe "gut gegen Fälschungsmanipulationen und gegen Totalfälschung geschützt sind". Ähnlich Positives ließe sich allerdings nicht über die Firmenmitarbeiter sagen. Das Unternehmen könne quasi dem Bereich der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden, teilten Grenzschutz und später auch das BKA dem Bundesinnenministerium mit.

Einige der Mitarbeiter seien offenkundig in Schleusergeschäfte verwickelt. Allein von November 2000 bis Oktober 2001 habe das Unternehmen "1500 aufenthaltsgenehmigungspflichtige Ausländer" aus Kiew, Moskau, Minsk und Chisinau eingeladen.

Das Landeskriminalamt Berlin habe schon früher gegen einen der Flimpex-Akteure ein Verfahren wegen Untreue und des Einschleusens von Ausländern eingeleitet. Seit September 2002 war zudem dem Bundeskriminalamt durch Unterlagen spanischer Behörden bekannt, dass die Firma auch in Spanien in Schleuser-Aktionen verwickelt war.

Lizenz zum Gelddrucken

Der Bundesgrenzschutz teilte dem Bundesinnenministerium mit, dass die Firma die Anforderungen für eine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen nicht erfülle. Ein argwöhnischer Beamter des BKA, dessen Spezialgebiet die Bekämpfung der Schleuser- Kriminalität ist, erkundigte sich bei einer Mitarbeiterin einer Botschaft, ob das Ergebnis der Prüfung ihr und dem AA auch bekannt sei. Die Antwort war: "Ja".

Mit Schreiben vom 2. April 2003 teilte das AA der Berliner Firma mit, dass erfreulicherweise die Zulassung des Flimpex-Reiseschutzpasses genehmigt worden sei. Dies sei eine Privilegierung gegenüber anderen Reisekrankenversicherungen.

Klar, dass auch einer der ehemaligen Kübler-Partner, der in Braunschweig eine Firma namens Itres GmbH gegründet hatte, ins Geschäft gekommen war. Mit Runderlass vom 26. April 2002 hatte das AA den Voucher der Firma für Visa anerkannt. Auch in diesem Fall hatten Grenzschutz und BKA die Seriosität der Firma noch einmal geprüft und festgestellt, dass der Firmeninhaber den Anforderungen nicht genüge.

Sichtlich fassungslos schrieb aus Kiew der Verbindungsbeamte des Grenzschutzes, Claus Leber, im Juni 2002 an die Kollegen in Deutschland, dass es sich "bei dem Geschäftsinhaber um eine äußerst fragwürdige Person" handelt. Der Hinweis war überflüssig. Die Details über die Firma waren in Berlin bekannt.

Wenn fragwürdigste Firmen die Lizenz zum Gelddrucken bekommen, gibt es viele Fragen. Normal im politischen Geschäft ist, dass am Ende keiner für den Anfang verantwortlich sein will und dass die Kleinen gehängt werden sollen.

"Als wenn ich leprakrank wäre"

Weil der AA-Mitarbeiter Fritz Grützmacher als Mitglied der Deutsch-Evangelischen Gemeinde in Kiew ohne sein Wissen Kontakt zu einem der ganz großen Schleuser hatte, wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Vorteilsnahme eingeleitet. Bei einer Rückreise aus Kiew wurde er 2001 von fünf deutschen Polizeibeamten in Frankfurt/Oder aus dem Zug geholt und erkennungsdienstlich behandelt.

Seine Wohnung in Bonn wurde durchsucht, Akten wurden konfisziert, darunter die Handakte aus Kiew. Nach knapp drei Jahren, 2004, wurde das Verfahren eingestellt, weil Grützmacher unschuldig war. Inzwischen ist er pensioniert, aber den Schock hat er noch nicht überwunden.

Er befindet sich seit dem Zeitpunkt der kurzzeitigen Festnahme wegen Herzproblemen in ärztlicher Behandlung. Zu den alten Kollegen hat er keinerlei Kontakt mehr. "Ich werde gemieden, als wenn ich leprakrank wäre", sagt er. Gern hätte er seine Handakte mit den Unterlagen über die Vorgänge in Kiew zurück.

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