Ungarn gehört zwar nach wie vor der Europäischen Union an, aber in der politischen Praxis manövriert Ministerpräsident Viktor Orbán sein Land immer weiter hinaus aus dem vereinigten Europa. Das kostet sein Land mittlerweile sehr viel Geld. Die EU hält nach wie vor zwanzig Milliarden Euro an Fördergeldern zurück mit der Begründung, die ungarische Regierung verstoße auf verschiedenen Politikfeldern, zum Beispiel im Umgang mit Minderheiten, gegen das allgemeine europäische Wertegerüst. Nun hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein außergewöhnlich drastisches Urteil gefällt: Ungarn wird dazu verurteilt, eine pauschale Strafe von 200 Millionen Euro sowie ein Zwangsgeld von täglich einer Million Euro zu zahlen, weil das Land im Umgang mit Flüchtlingen europäisches Recht nicht einhalte.
Viktor Orbán deutete am Donnerstag an, dass er weder die Strafen zahlen noch die Asylregeln ändern lassen werde. Als „empörend und inakzeptabel“ bezeichnete er das Urteil auf dem Kurznachrichtenkanal X. „Es scheint, dass illegale Migranten für die Brüsseler Bürokraten wichtiger sind als ihre eigenen europäischen Bürger.“ Mit den „Brüsseler Bürokraten“ meint Orbán die EU-Kommission, deren Aufgabe es ist, die Einhaltung des europäischen Rechts zu überwachen. Die Kommission hatte Klage vor dem EuGH erhoben, dessen Sitz allerdings Luxemburg ist.
Orbán ließ die Transitzonen schließen, verschärfte aber das Asylrecht
Das Verfahren reicht zurück bis in die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016. Die ungarische Regierung richtete damals an der ungarisch-serbischen Grenze „Transitzonen“ ein – umzäunte und bewachte Camps, in denen viele Migranten, auch Minderjährige, monatelang bleiben mussten. Auf eine Klage der Kommission hin entschied der EuGH im Jahr 2020, Ungarn beschränke den Zugang von Flüchtlingen zum Asylrecht. Migranten würden auf illegale Weise inhaftiert und abgeschoben, bevor sie alle Rechtsmittel ausschöpfen können.
Viktor Orbán ließ daraufhin die Transitzonen schließen, verschärfte aber zugleich das Asylrecht. Diese Vorschriften machen es Flüchtlingen fast unmöglich, auf ungarischem Staatsgebiet einen Asylantrag zu stellen. Zunächst einmal muss ein Antrag in einer Botschaft außerhalb des Landes eingereicht werden. Flüchtlinge, die trotzdem die Grenze überqueren, werden in der Regel wieder außer Landes geschickt. Die EU-Kommission erhob daraufhin neuerlich Klage, verbunden mit der Forderung nach Geldstrafen. Sie bekam nun recht.
Ungarn gefährde das öffentliche Interesse in Europa
Das Verhalten der ungarischen Regierung stelle „eine erhebliche Bedrohung für die Einheit des Unionsrechts“ dar, so steht es in der Urteilsbegründung. Sie gefährde nicht nur die Rechte der Asylbewerber, sondern auch das öffentliche Interesse in Europa „außerordentlich schwer“. Das Gericht stellt einen „schweren Verstoß gegen den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ fest. Es kommt zu dem Schluss: „Diese Vertragsverletzung, die darin besteht, die Anwendung einer gemeinsamen Politik der Union insgesamt bewusst zu umgehen, stellt eine ganz neue und außergewöhnlich schwere Verletzung des Unionsrechts dar.“
Es zeichnet sich bereits ab, dass die EU und die ungarische Regierung sich in Sachen Migration bald wieder vor dem EuGH treffen werden. Denn Orbán hat angekündigt, dass er sich auch nicht an die im April verabschiedeten neuen Asylgesetze der EU halten wird. Diese Regeln sehen große Aufnahmelager an den Außengrenzen der EU vor, die an Orbáns Transitzonen erinnern. Allerdings soll nur eine bestimmte Gruppe von Migranten dort festgehalten und von dort wieder abgeschoben werden: jene mit erkennbar geringer Aussicht auf Anerkennung ihres Asylantrags. Außerdem soll ihnen voller Rechtsschutz gewährt werden.
Woran sich Orbán vor allem stört: Die neuen Regeln formulieren zumindest als Prinzip, dass sich die Mitgliedstaaten untereinander solidarisch zeigen müssen bei der Verteilung von Flüchtlingen. Wer überlasteten Staaten keine Migranten abnimmt, soll ihnen zumindest Geld zahlen oder anderweitige Unterstützung leisten, zum Beispiel durch die Entsendung von Grenzbeamten. Viktor Orbán lehnt das strikt ab.
Ungarn ist darüber hinaus das einzige Land der EU, das mit einem sogenannten Artikel-7-Verfahren konfrontiert wird. Dieses Verfahren dient zum Schutz der Werte und des Haushalts der EU und wurde gegen Orbáns Regierung eröffnet, weil sie unter Verdacht steht, die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit einzuschränken sowie Korruption zu fördern. Es kann im Extremfall dazu führen, dass Ungarn das Stimmrecht in der EU entzogen wird. Bislang waren im Rat der Mitgliedsländer dafür keine Mehrheiten absehbar. Weil aber Orbán die Ukraine-Politik der EU systematisch blockiert, gab es zuletzt in mehreren Mitgliedstaaten Überlegungen, das Artikel-7-Verfahren wieder voranzutreiben.