Vietnamesische "Boatpeople":"Wir sind Deutschland so dankbar"

Vietnamesische "Boatpeople": Hoàng Thị Mỹ Lâm steht unter dem Nashi-Baum in ihrem Garten.

Hoàng Thị Mỹ Lâm steht unter dem Nashi-Baum in ihrem Garten.

(Foto: Jana Anzlinger)

Dabei wollte Hoàng Thị Mỹ Lâm nie in dieses Land, das sie einst als Geflüchtete vor dem Vietnamkrieg aufnahm. Eine Geschichte über Integration - und den ungebrochenen Glauben an Demokratie.

Von Jana Anzlinger

Hoàng Thị Mỹ Lâm ist eine liebevolle Oma, eine leidenschaftliche Gärtnerin, eine aktive Rentnerin. Und heute Abend ist sie so sehr Demokratin, dass sie sich die Seele aus dem Leib schreit.

"Keine Propaganda! Keine Propaganda! Keine Lügen über den Vietnamkrieg", ruft sie mit ihrer hellen Stimme ins Mikrofon. Sie ist schwer zu verstehen über den Verkehrslärm einer mehrspurigen Straße in Berlin-Moabit. Gelegentlich quietscht der Lautsprecher wegen einer Rückkopplung. "Die 68er" - quietsch - "verraten" - quietsch - "Kriegstreiber!" Vor ihr stehen knapp 20 Menschen im Rentenalter. Sie halten Banner, auf denen "No Communism" steht, und Fahnen einer Republik, die es nicht mehr gibt. Alle sind in den 70ern und 80ern aus Vietnam geflüchtet und gehören zu den sogenannten "Boatpeople", die die westlichen Staaten damals aufgenommen haben.

Für diese Flüchtlinge ist Hoàng Thị Mỹ Lâm einerseits ein typisches Beispiel. Andererseits hat sie einen Weg hinter sich, der der Plot eines Romans oder einer Netflix-Serie sein könnte. Hoàngs Lebensgeschichte zeigt, wie Integration für die funktionieren kann, die sich willkommen fühlen. Sie zeigt, wie es geht, anzukommen, ohne sich selbst aufzugeben.

"Freedom", erklärte sie den Soldaten, "wir suchen Freiheit"

Hoàng trägt einen langen grauen Rock und einen dünnen schwarzen Pullover mit schickem Kragen. Ihre Schuhe sind schwarz und praktisch. Am 17. April 1979 trug die Frau, die damals noch Tran Thị Mỹ Lâm hieß und erst 28 Jahre alt war, eine neue weißrote Hose aus weicher Baumwolle und ein passendes Hemd ohne Kragen. So stieg sie mit knapp 300 anderen Menschen in ein Fischerboot. In den folgenden Tagen wurde ihre Kleidung zu schmutzigen Fetzen. Bei einem Überfall rissen thailändische Piraten der Geflüchteten ihre Plastikbrille von der Nase, sie hat sie vom Boden geklaubt und den Rahmen später mit Draht zusammengeflickt.

Damals wie heute erkoren Menschen Hoàng zu ihrer Sprecherin. Sie ist eloquent und jemand, zu dem auch Fremde leicht Vertrauen fassen können. Als sie vier Tage nach der Flucht an einem malaysischen Strand landeten und von Soldaten empfangen wurden, schickten die anderen Tran auch deshalb vor, weil sie Englisch konnte. "Freedom", erklärte sie den bewaffneten Männern, "wir suchen Freiheit".

Fast 40 Jahre später demonstriert sie in Berlin gegen eine Kunstausstellung über den Vietnamkrieg. Ihrer Meinung nach stellen die Kunstwerke den Krieg verzerrt dar: als einen zwischen Ost und West, bei dem Nord- und Südvietnamesen gegeneinander ausgespielt wurden. Die Demonstranten sehen ihn aber als einen Expansionskrieg des Kommunismus. Sie erinnern sich an die kurze Zeit davor, in der Südvietnam unabhängig war. Sie sind der Meinung, dass das vom Westen gestützte Regime auf dem Weg in eine demokratische Zukunft war, trotz der Korruption und der Macht des Militärs. Ihr Protest wirkt rückwärtsgewandt, manche Passanten schütteln im Vorbeigehen den Kopf.

Am Tag nach der Kundgebung sitzt die Rentnerin Hoàng in ihrem Einfamilienhaus an einem großen Esstisch und sagt, dass sie das Leben in Deutschland liebt. Ihr Mann Kim Thiên huscht auf dem hellen Teppich hin und her und bringt Kaffee, Zucker, Milch, Torte, einen Obstteller. Es riecht dezent nach Sauberkeit. An den Wänden hängen gerahmte Familienfotos. Durch das Fenster der Wohnstube ist eine ruhige Straße am Berliner Stadtrand zu sehen. Der Nachbar von gegenüber, ein älterer Herr, kann bei jeder Mahlzeit zuschauen, bei jedem Fernsehabend und jedem Besuch, den das Ehepaar Hoàng empfängt. "Wir haben nichts zu verbergen", sagen die Hoàngs, sie müssen sich nicht hinter Vorhängen verstecken.

Sie haben viele nicht vietnamstämmige Freunde und Bekannte. Mit der vietnamesischen Community haben sie im Rahmen ihrer Vereinsarbeit zu tun. Der Bundesverband der vietnamesischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland e. V. hat die gestrige Kundgebung organisiert. Früher war er nicht so politisch, bis Hoàng den Vorsitz übernahm.

Während sie auf der Flüchtlingsinsel Kranken half, stritt Deutschland über "Boatpeople"

Dass die Demokratie nach westlichem Muster das einzige richtige System ist, dass ein Land freie Marktwirtschaft braucht, daran hat die heute 67-Jährige nie gezweifelt, im Gegensatz zu ihren Altersgenossen, die den Kalten Krieg von der deutschen Seite aus erlebt haben. Die Ärztin hat ihren Job in einem Krankenhaus in Saigon hinter sich gelassen, ihre Eltern, ihre Schwester, ihre Freunde. Sie ist in ein überfülltes Fischerboot gestiegen, obwohl sie nicht schwimmen konnte und ohne Brille fast blind war. Das alles, um dem Kommunismus zu entkommen. Sie versteht bis heute nicht, wieso Studenten in Frankfurt und Westberlin mit dem Ruf "Ho! Ho! Ho Chi Minh!" gegen ein demokratisches System protestierten.

Vietnamesische "Boatpeople": Tran Thị Mỹ Lâm (hier im Alter von 17 Jahren) hat während des Vietnamkriegs die Schule abgeschlossen und studiert.

Tran Thị Mỹ Lâm (hier im Alter von 17 Jahren) hat während des Vietnamkriegs die Schule abgeschlossen und studiert.

(Foto: privat)

Eigentlich wollte sie gar nicht nach Deutschland. Sie wollte unbedingt in die USA, doch das wollten viele. Monatelang hoffte sie vergeblich, sich gegen die anderen Bewerber durchzusetzen. Nach ihrer Flucht behandelte sie fast zwei Jahre lang Kranke auf der malaysischen Flüchtlingsinsel Pulau Bidong, ihre Hauptaufgabe war die Versorgung von Vergewaltigten. Unterdessen diskutierte die Bundesrepublik über die Boatpeople. Medienberichte über die Menschen, die auf Schiffen und in Flüchtlingslagern festsaßen, die zu Tausenden ertranken, und Aufrufe von Helfern wie Rupert Neudeck führten zu einer Welle der Solidarität. Die Deutschen spendeten und machten der Regierung Druck. Niedersachsens christdemokratischer Ministerpräsident Ernst Albrecht sorgte für die Aufnahme der ersten Tausend, in Hessen holte ausgerechnet der heutige AfD-Politiker Alexander Gauland als Büroleiter des Frankfurter Oberbürgermeisters Flüchtlinge ins Land. Der UN-Flüchtlingskommissar und die verbündeten Westmächte machten Druck von außen.

So kam es, dass die junge Ärztin aus Saigon im März 1981 in ein Flugzeug nach Berlin-Tegel steigen durfte. Nach ihrer Ankunft kam sie in eine Unterkunft für Asylsuchende. Sie erhielt ein kleines Taschengeld, von dem sie zuallererst einen Fön kaufte, weil ihr nach dem Haarewaschen der Kopf schmerzte von der Berliner Frühjahrskälte. Als Nächstes besorgte sie sich ein Radio, um auf BBC die Nachrichten zu verfolgen. Ein Attentäter schoss auf US-Präsident Ronald Reagan, der deutsche Außenminister reiste nach Moskau, Jugoslawien erklärte den Ausnahmezustand. Beim Deutschlernen half ihr ein Student aus Vietnam, der schon seit Jahren in Berlin lebte.

Sie lebte sich ein, aber der Stress hatte Spuren hinterlassen. Im Mai hatte sie eine Magenblutung. Der Student saß im Krankenhaus neben ihrem Bett. Im Sommer machte er seinen Abschluss. Im November heirateten sie und zogen zusammen in eine Wohnung.

"Die Zeit vergeht so schnell"

Im Juni 1982 brachte sie ihre erste Tochter zur Welt. Fünf Monate später begann sie wieder als Ärztin zu arbeiten, erst als Gastärztin in einer Klinik, dann als Schwangerschaftsvertretung in einer anderen. Schließlich stellte das Bethel-Krankenhaus in Lichterfelde sie ein, als Ärztin auf der geriatrischen Station. "Von 1986 bis 2016 war ich im Bethel. Und jetzt bin ich eine Rentnerin. Die Zeit vergeht so schnell", sagt Hoàng.

Wenn sie zurückschaut, rauscht ein volles Leben an ihr vorbei: Sie bekam eine zweite Tochter und sie holte einen Neffen aus Vietnam nach Berlin und adoptierte ihn. Ihr Mann arbeitete als Ingenieur bei mehreren kleinen Betrieben und dann lange Zeit bei Siemens. Das Geld war nicht mehr ganz so knapp, zu Hause wurde es eng und schließlich kauften sie das Einfamilienhaus mit der großen Wohnstube zur Straße hin.

Abends trafen sich die Hoàngs am Essenstisch und erzählten einander von ihrem Tag in der Klinik, im Betrieb, in der Schule. Auf Deutsch. Sie haben den Töchtern nie Vietnamesisch beigebracht und bereuen das heute manchmal. "Aber für uns war es das Wichtigste, dass sie es leicht haben und dazugehören", sagt Hoàng heute. Die Familie feierte das Ahnenfest mit einem Altar und Weihnachten mit einem Tannenbaum. Der Vater kochte Spaghetti mit Tomatensoße, die Mutter manchmal Phở, eine würzige Nudelsuppe.

Familie Hoang

Das Ehepaar Hoàng hat drei Kinder großgezogen.

(Foto: privat)

Ihr Leben änderte sich und sie selbst auch. "Sie war schon immer so hilfsbereit, aufgeweckt und bemüht wie heute. Aber anfangs wollte sie unauffällig sein, sich integrieren und anpassen. Fast so wie eine graue Maus", schildert ein ehemaliger Kollege und langjähriger Freund. Im Laufe der Jahre habe Hoàng sich "politisiert" und trete nun selbstbewusster auf.

Der Freundeskreis trifft sich seit den 80ern drei- oder viermal im Jahr für ein gemeinsames Essen, immer bei jemand anderem zu Hause. Es ist eine große Runde, zwölf Menschen, die alle Mediziner sind und ansonsten sehr unterschiedlich. Beim Essen reden sie über ihre Kinder und Enkel und über die Bücher, die sie gerade lesen. "Aber der Knackpunkt ist, wenn wir über Politik reden", sagt der alte Freund. Hoàng vertritt ihre Ansichten auch in dieser Runde stur, in der Berliner Altlinke sitzen, die die Antikommunistin viel zu US-freundlich finden. Die Streits sind dem alten Freund offenbar etwas peinlich. Er sagt, es werde dann das Thema gewechselt.

"Mama, du und dein komisches Deutsch!" schreiben die Kinder auf Whatsapp

Ihr Sohn arbeitet heute für eine Computerfirma. Die Töchter sind, zum Stolz der Mutter, Dermatologin und Augenärztin geworden. Eine hat inzwischen selbst zwei Kinder. Die ältere ist gerade eingeschult worden, auf den Fotos von der Feier strahlt Oma Hoàng mit ihrer Enkelin um die Wette.

Im Familien-Whatsapp-Chat teilen sie solche Fotos und Videos. Manchmal beschweren sich Hoàngs Kinder dort: Mama, du und dein komisches Deutsch!

Hoàng lacht darüber, aber eigentlich wurmt es sie doch, dass sie beim Schreiben so viele Fehler macht. Sie schreibt gerne und viel: Pressemitteilungen für den Verein, E-Mails und Texte über sich, aus denen mal ihre Autobiografie werden soll. Sie liest selbst gern Biografien und Romane.

Aber leider hat Hoàng Thị Mỹ Lâm so wenig Zeit. Sie reist zu den Enkeln nach Norddeutschland, hat Besuch von Freunden, kümmert sich um den Verein, verfolgt die Nachrichten, und der Garten pflegt sich auch nicht von selbst.

"Wir sind doch total eingedeutscht"

An einem windigen Spätsommertag steht das Ehepaar Hoàng im Garten. "Hol mal zwei von denen da oben", befiehlt sie und zeigt auf den Baum, der voll mit Nashi-Birnen hängt. Wenn sie miteinander allein sind, reden sie mal Deutsch, mal Vietnamesisch. Die Leiter wackelt, als er bedächtig die Stufen hochklettert und sich nach den orange-gelben Früchten streckt. Weiße Tuberose duftet, tropische Kürbisse baumeln über Beeten mit deutschem Gemüse.

Darauf, zurück nach Vietnam zurück zu gehen, kommen die Hoàngs gar nicht. Sie sind hier zu Hause. "Wir sind doch total eingedeutscht", sagt Frau Hoàng. Sie hat daran hart gearbeitet und sie hatte viel Glück, mehr als andere Boatpeople, die in den Jahren nach ihrer Ankunft angefeindet und angegriffen wurden - und mehr als viele von denen, die heute in Deutschland Schutz suchen. Sie sagt, dass sie mit den Asylsuchenden mitfühlt, gerade denen, die vor Krieg und Unterdrückung geflohen sind. So richtig identifizieren möchte sie sich aber nicht mit ihnen. "Das ist heute ganz anders", sagt sie, "es geht um die Masse."

Wie die Kanzlerin 2015 mit der "Masse" umgegangen ist, findet Hoàng gut. Was der Innenminister sagt und was sonst noch von rechts kommt, findet sie weniger gut. Sie glaubt, dass die Demokratie auch Pegida und AfD aushält. "Das ist doch nur ein vorübergehendes Phänomen", meint sie. Dieses Land ist ihre Heimat, trotz der ausländerfeindlichen Stimmung, die sich in letzter Zeit ausbreitet.

Hoàng Thị Mỹ Lâm ist angekommen. Wenn sie ihre Lebensgeschichte erzählt, beginnt und endet sie mit demselben Satz: "Wir sind Deutschland so dankbar."

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