Vier Jahre nach Maidan-Protesten:Warum die Ukraine zu Europa gehören will

Crimean crisis reactions in Kiev

Viele Ukrainer begannen während der Maidan-Proteste, den Blick gen Westen zu richten: Graffiti in Kiew aus dem Jahr 2014 (Archivbild).

(Foto: dpa)

Vier Jahre nach den Maidan-Protesten sehnt sich die Ukraine nach der EU: Der starke Partner verheißt Sicherheit, Geld und Perspektiven. Trotz Reformeifers lebt die junge Generation im Ungewissen.

Von Eva Steinlein, Kiew

Kurz vor Mitternacht wird es noch einmal typisch ukrainisch: Was mit viel Enthusiasmus beginnt, verpufft oft vor dem entscheidenden Moment; die Leute sind engagiert, aber besinnen sich doch im letzten Moment auf das, was für ihr eigenes Leben nützt.

Hunderte Menschen haben sich am 10. Juni auf dem Europäischen Platz im Zentrum von Kiew vor einer Bühne versammelt, auf der nacheinander die Stars der ukrainischen Musikszene auftreten, von der früheren ESC-Gewinnerin Ruslana bis zur Rockgruppe Kozak System. Zu dem Konzert hat die Stadt anlässlich der "Visafreiheit" eingeladen, so nennen die Zeitungen die Möglichkeit für ukrainische Staatsbürger, sich 90 Tage lang ohne Visum in der Europäischen Union aufzuhalten. Im Publikum schwenken einige Leute Europa-Flaggen, eine Studentengruppe lässt sich mit einem Banner fotografieren, auf dem steht: "Ihr habt uns unsere Träume wiedergegeben!", die Volksmusiksängerin Christina Solovey preist das Potenzial, mit dem die Ukraine zu Europa beizutragen habe.

Und dann, um 23.45 Uhr, ist alles vorbei: Die A-Riege der ukrainischen Musikpromis verabschiedet sich, das Publikum strömt Richtung Metro, auf einer Anzeigetafel neben der Bühne erscheint ein Countdown. Als er schließlich 00:00 anzeigt, ist fast niemand mehr da, um zu feiern. Der Abend, der von Zeitungen, Politikern und Promis vorab als "historisches Ereignis" gepriesen wurde, endet symptomatisch für die ukrainische Gegenwart.

"Ukrajina - ze Jewropa!" brüllten die Maidan-Demonstrierenden

Ukraine Protests Continue As Financial Deal Hangs In The Balance

Beim "Euromaidan" im Winter 2013/2014 gingen Tausende in Kiew auf die Barrikaden.

(Foto: Getty Images)

Nur 300 Meter vom Europäischen Platz, die Kiewer Hauptstraße Chreschtschatyk hinab, standen vor knapp vier Jahren Zehntausende auf den Barrikaden: Die "Euromaidan"-Proteste, ausgelöst durch brodelnde Unzufriedenheit mit dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch und angefacht dadurch, dass er ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ausgeschlagen hatte.

Bis zuletzt hatte Janukowitsch versucht, die Staatengemeinschaft als Vertragspartner gegen Russland auszuspielen, um den lukrativsten Deal für sein Land herauszuschlagen - oder vielmehr für dessen korrupte Regierung. Die EU sei kein Basar, polterten damals Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius, während in Kiew Tausende brüllten: "Ukrajina - ze Jewropa!" - "Die Ukraine, das ist Europa!"

Heute finden sich litauische Flaggen zwischen den Nationalfahnen, Bauhelmen und Blumensträußen, die auf dem Maidan an die Ereignisse des Winters 2013/2014 erinnern sollen. Nach Inkrafttreten der Visafreiheit hat die staatliche Fluggesellschaft Ukraine International Airlines zwei symbolische Sonderflüge nach Brüssel und in Litauens Hauptstadt Vilnius geschickt. Der baltische Staat, der sich nach der Loslösung von der Sowjetunion entschlossen nach Westen wandte und 2004 in die EU und die Nato eintrat, könnte der Ukraine ein Vorbild sein: Denn für sie hat die Europäische Union eine Attraktivität, die deren Mitgliedsstaaten oft nicht mehr in ihr erkennen. Vor die (fiktive) Wahl gestellt, spricht sich in Umfragen die Hälfte der Ukrainer für einen Beitritt zur EU aus. Nur 14 Prozent wollen ihr Land in der Zollunion Russlands mit Weißrussland und Kasachstan sehen.

Hurra-Patriotismus in weiten Teilen der Gesellschaft

Das starke Nationalbewusstsein, das sich in Abgrenzung vom nunmehr entfremdeten "Bruderstaat" Russland herausgebildet hat, lässt das Land erst den Blick gen Westen richten. Während nationalistische Bewegungen in der EU eher zu Auflösungserscheinungen wie dem Brexit, rechtspopulistischen Kandidaten bei jeder größeren Wahl oder einer rechtsnationalen Regierung wie in Ungarn führen, bewirken sie in der Ukraine das Gegenteil.

Allgegenwärtig sind die ukrainischen Nationalfarben Hellblau und Gelb, die den blauen Himmel über einem Weizenfeld versinnbildlichen sollen - ob als Flagge, Hausanstrich, in Blumenrabatten oder auf Alltagsgegenständen. Viele versuchen jetzt, nur noch Ukrainisch statt Russisch zu sprechen, obwohl beide Sprachen im Land jahrzehntelang koexistiert haben, das Denkmal der Völkerfreundschaft Russlands mit der Ukraine hat jemand mit dem nationalistischen Gruß "Ruhm sei der Ukraine!" beschmiert. In weiten Teilen der Gesellschaft hat ein Hurra-Patriotismus um sich gegriffen, der sich oft an der Grenze zur Verleugnung des gemeinsamen Erbes mit Russland bewegt. Dabei übersehen viele, dass er dem Land nicht nur Gutes gebracht hat.

Vier Jahre nach Maidan-Protesten: Ein Wandgemälde auf dem Campus der Nationalen Technischen Universität Kiew erinnert an den Krieg.

Ein Wandgemälde auf dem Campus der Nationalen Technischen Universität Kiew erinnert an den Krieg.

(Foto: Eva Steinlein)

Die Kämpfe in der Ostukraine - "aus den Augen, aus dem Sinn"

Nach der "Revolution der Würde", wie die Ukrainer die Maidan-Proteste nennen, waren hundert Menschen tot. Der damalige Präsident Janukowitsch floh nach Russland, das wenig später die Halbinsel Krim annektierte und in der Ostukraine bis heute in Kämpfe mit der ukrainischen Armee verwickelt ist - immer weniger bemüht sich Moskau, das zu verbergen. Woche für Woche sterben bis zu zehn Menschen in der Konfliktregion, rund zehntausend sind schon gefallen. An der Außenmauer des Michaelsklosters sind sie mit Fotos und Steckbrief-Biografien aufgeführt. Je kürzer ihr Sterbedatum zurückliegt, desto kürzer war oft auch ihr Leben: Vereinzelt ist in den jüngsten Einträgen das Geburtsjahr 1997 zu lesen. Unter den Gedenktafeln stehen Blumen und Grablichter, wer daran vorbeigeht, verlangsamt seine Schritte und spricht nur leise. Dennoch werde das Gedenken an die Gefallenen verdrängt, beklagt ein Veteran aus dem Donbass, selbst Jahrgang 1992: "Siehst du hier in Kiew irgendwelche Anzeichen von Krieg? Nein? Eben. Aus den Augen, aus dem Sinn."

Ein Krieg, den Europa zeitweise vergisst

Der Konflikt in der Ostukraine ist der derzeit einzige Krieg in Europa - ein Krieg, den Europa zeitweise vergisst, mit dem es nichts zu tun haben will, auch wenn die Auswirkungen anhalten: Die Spannungen in der Ukraine haben auch für die EU zum Zerwürfnis mit Russland geführt, zu Sanktionen, Gegensanktionen und zwei Abkommen namens Minsk I und II, die noch immer nicht weiter umgesetzt sind als bei ihrer Unterzeichnung.

Vier Jahre nach Maidan-Protesten: An der Außenmauer des Michaelsklosters erinnern Tausende Bilder an die Gefallenen in der Ostukraine.

An der Außenmauer des Michaelsklosters erinnern Tausende Bilder an die Gefallenen in der Ostukraine.

(Foto: Eva Steinlein)

Seit der Annexion der Krim befürchten die Ostsee-Anrainer Polen, Estland, Lettland und Litauen ein ähnliches Schicksal wie die Ukraine und haben ihre Bündnispartner im Nordatlantikpakt um Verstärkung gebeten - mit Erfolg. Seit Anfang 2017 üben Nato-Soldaten zur Abschreckung in demonstrativer Nähe zur russischen Grenze. Einer tatsächlichen Aggression könnten sie aber keine drei Tage standhalten, haben US-Strategen anhand verschiedener durchgespielter Szenarien errechnet.

Auch die Ukraine würde gern der Nato beitreten, das hat sie per Parlamentsresolution 6470 offiziell zu einem Ziel ihrer Außenpolitik gemacht. Den geforderten Mitgliedsbeitrag von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militärausgaben übertrifft sie schon jetzt, Reformen sollen die marode Armee bis 2020 allianzfähig machen. "Teil einer Allianz zu werden, die wie die Nato solide Sicherheitsgarantien bietet, ist die ultimative Lösung für das 'russische Problem'", drückt es der Politologe Mykola Bjeljeskow vom Kiewer Institute of World Policy aus.

Illusionen darüber, dass dieses Ziel eher symbolisch als realistisch ist, macht er sich nicht. Denn Länder mit Territorialkonflikten können keine Mitgliedsstaaten werden - und selbst wenn dieser eines Tages gelöst würde, wäre ein Nato-Beitritt der Ukraine eine gigantische Provokation gegenüber Russland. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg weicht der Frage bislang aus und belässt es bei Solidaritätsbekundungen. Wichtiger als der Beitritt sind laut Bjeljeskow ohnehin die Veränderungen, die eine solche außenpolitische Neuausrichtung anspornt: "Um den Prozess in Gang zu setzen, der die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärkt, brauchen wir dieses klar gesetzte Ziel", sagt er.

Die EU ist für Ukrainer eine Werte- und Wohlstandsgemeinschaft

Große Wünsche treffen auf begrenzte reale Möglichkeiten - das ist nicht nur in der ukrainischen Verteidigungspolitik so. Die EU ist für viele Ukrainer mehr noch eine Wohlstands- als eine Wertegemeinschaft. Insgesamt 1,8 Milliarden Euro hat die Europäische Union der Ukraine bis 2020 bewilligt, um das Land zum verlässlichen Partner aufzubauen.

Der Staatsbankrott ist damit vorerst abgewendet, doch es bleibt klamm: Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit den Maidan-Protesten 2013 fast halbiert. Pro Kopf beträgt es nur knapp 2000 Euro - ein Zwanzigstel des deutschen Wertes. In der Folge ist die Ukraine ein Auswanderungsland: Werbeanzeigen in der Metro locken mit "Arbeit in Polen und Rumänien, garantierter Lohn bis zu 25 000 Griwna". Die umgerechnet 825 Euro monatlicher Verdienst, die da ausgelobt werden, entsprechen dem Achtfachen des ukrainischen Mindestlohns.

Wer zu arm zum Auswandern ist, arrangiert sich

Wer zu arm ist, um zum Arbeiten in die EU zu gehen, muss sich arrangieren: Das Existenzminimum liegt nach staatlichen Angaben bei 50 Euro im Monat, die Rente der meisten Pensionäre fällt kaum höher aus. So kommt es, dass am Eingang zu vielen Metrostationen ältere Frauen mit Kopftuch Obst und Gemüse aus dem Garten verkaufen. Ihre Männer, deren Lebenserwartung in der Ukraine zehn Jahre geringer ausfällt als die der Frauen, sind meist schon gestorben.

Vier Jahre nach Maidan-Protesten: Ältere Frauen verkaufen am Eingang zur Metro Obst und Gemüse aus dem Garten.

Ältere Frauen verkaufen am Eingang zur Metro Obst und Gemüse aus dem Garten.

(Foto: Eva Steinlein)

Auf der anderen Seite entsteht durch die bewegte Geschichte des Landes, die in der Welt inzwischen bekannter geworden ist, nach und nach eine neue Einnahmequelle. Mit gesundem Pragmatismus, den die Ukrainer in den Jahren des Mangels entwickelt haben, richten sich die größeren Städte verstärkt auf den Tourismus aus. Die Verkäuferinnen in den Geschäften haben Lächeln gelernt, ihr Englisch klingt viel flüssiger, viel bereitwilliger als noch vor fünf Jahren, Taxifahrten oder Kaffeebesuche im Zentrum von Kiew kosten inzwischen ein Vielfaches - für Ausländer jedenfalls. Wer eine Wohnung besitzt und auf dem Portal AirBnB als Unterkunft vermietet, kann von den Einnahmen gut leben.

"Wer was draufhat, wird sicherlich woanders hingehen"

An vielen Stellen wird der wirtschaftliche Fortschritt noch immer durch die unter Janukowitsch einst allgegenwärtige Bestechung ausgehöhlt. Transparency International ordnet das Land auf einem "Sauberkeits"-Index als 131. von 176 Staaten ein - den Platz teilt sich die Ukraine unter anderem mit Russland. Jüngst mahnte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, den Kampf gegen die Korruption fortzusetzen: Die bisherigen Anstrengungen, die die Europäische Union unter anderem mit der Visafreiheit belohnt hatte, gingen nicht weit genug. Die anhaltende Korruption könne gar alle politischen Fortschritte des Landes zunichtemachen.

Vier Jahre nach Maidan-Protesten: Die Währung der Ukraine ist schwach: Umgerechnet drei Cent ist eine Hrywnja wert.

Die Währung der Ukraine ist schwach: Umgerechnet drei Cent ist eine Hrywnja wert.

(Foto: Eva Steinlein)

Für die meisten Bürger ist Geld notgedrungen noch immer eine Form der Kommunikation, gerade in alltäglichen Lebensbereichen: Geschenke sollen bessere Behandlung beim Arzt erkaufen, an öffentlichen Schulen und Hochschulen bieten Lehrer nach dem Unterricht bezahlte Nachhilfestunden an, um ihr niedriges Gehalt aufzubessern. Langfristig, diese Meinung teilt die Mehrheit, wird sich die Situation in der Ukraine nur verbessern, wenn die Korruption ein Ende findet. Und doch gehen kurzfristig viele den Weg des geringsten Widerstands, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen.

Exit aus der Perspektivlosigkeit: ein Studium im Westen

Schlechte Voraussetzungen für die junge Generation, die etwas aus sich machen will. Ein Teil bereitet deshalb schon im Jugendalter den Exit aus der Perspektivlosigkeit vor, erzählt Gisela Zimmermann, Lektorin des Deutschen Akademischen Auslandsdiensts (DAAD) in Kiew: Auf Bildungsmessen kämen häufig Eltern mit ihren Kindern im Teenageralter vorbei und fragten, wie sie sich auf ein Studium im Ausland vorbereiten müssten. "Das Interesse an einem Studienabschluss in der EU ist extrem hoch, genauso wie die Frustration mit dem heimischen Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt."

Die typische DAAD-Bewerberin aus der Ukraine sei eine junge Frau mit hervorragenden Deutschkenntnissen, die ein MINT-Fach, Germanistik oder Jura studieren wolle. Während der Studienzeit in Deutschland engagiere sie sich in NGOs und knüpfe Kontakte, die den Berufseinstieg erleichtern. Kaum eine von ihnen blicke dann zurück: "Wer einigermaßen etwas draufhat, wird sicherlich woanders hingehen", sagt Zimmermann.

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