Süddeutsche Zeitung

Verteidigungspolitik:Europa braucht Verbündete in der Nato

Die Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben hat nicht US-Präsident Trump erfunden. Europa sollte dem nachkommen - nicht nur aus Eigennutz. Es könnte die Beziehung zu Russland verbessern.

Gastbeitrag von Anders Fogh Rasmussen

Beim Nato-Gipfel werden alle Augen auf US-Präsident Trump gerichtet sein, um zu verfolgen, ob er an seinen jüngsten Auftritt beim G-7-Gipfel anknüpft und erneut sein "America First" vor das langfristige Interesse Amerikas stellt. Ich hoffe aufrichtig, dass er es nicht tut. Die EU und die Nato nutzen Amerika nicht aus. Sie sind vielmehr zwei Institutionen, die amerikanische Teenager davor bewahrt haben, auf den Schlachtfeldern Europas zu sterben, wenn Konflikte auf unserem Kontinent über den Atlantik hinausragten.

Präsident Trump wird auf dem kommenden Gipfel erneut das Thema der "Lastenteilung" und Europas Defizite bei den Verteidigungsausgaben ansprechen. Aber lassen wir uns nicht von seinem eigentümlichen Stil ablenken, sondern denken wir daran, dass auch Präsident Obama denselben Appell kontinuierlich wiederholt hat. Die Erhöhung von Verteidigungsausgaben ist im Übrigen nicht gleichzusetzen mit der Militarisierung von Konflikten, ganz im Gegenteil. "Frieden durch Stärke" war eine von Ronald Reagan ausgerufene Maxime, und in Europa haben wir maßgeblich von den positiven Auswirkungen profitiert, die diese Strategie in den späten 1980er-Jahren hatte.

Die Stärkung unserer Verteidigungsausgaben könnte daher auch dazu beitragen, unsere Beziehungen zu Russland wieder zu verbessern. Denn nach vielen Jahren mit Präsident Putin kann ich versichern, dass er nur eines respektiert: Stärke. Wir alle streben doch an, zu unserem guten Verhältnis vor 2014 zurückzukehren und gemeinsam an den globalen Herausforderungen zu arbeiten. Aber dies ist nur möglich, wenn Moskau sein aggressives Verhalten ändert, vor allem in der Ukraine.

Das Zwei-Prozent-Ziel wurde übrigens nicht von Trump erfunden

Viele europäische Verbündete bewegen sich bei der Erhöhung ihrer Ausgaben mittlerweile in die richtige Richtung. Von ursprünglich drei Verbündeten im Jahr 2014 werden acht in diesem Jahr zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren. Sieben weitere sind auf dem Weg, ihre Verteidigungsbudgets zu erhöhen, Deutschland zählt dazu.

Das Zwei-Prozent-Ziel wurde übrigens nicht von Trump erfunden. Alle Verbündeten, einschließlich der Bundesregierung, haben sich beim Nato-Gipfel 2014 in Wales dazu verpflichtet, dieses Ziel bis 2024 zu erfüllen. Man versuche, die Sache einmal folgendermaßen zu betrachten: So wie viele Menschen in Deutschland besorgt sind, dass sie eines Tages möglicherweise für die Schulden der südlichen Mitgliedsstaaten der Eurozone aufkommen müssen, sind Amerikaner und andere Partner unzufrieden darüber, dass sie mehr für die Verteidigung Deutschlands zahlen müssen als das Land selbst.

Doch eine gerechtere Lastenteilung beim Verteidigungsetat birgt auch die Gefahr, in ein völlig anderes Konzept zu kippen, das insbesondere von einigen "Post-Atlantikern" in Deutschland befürwortet wird: eine strategische Autonomie Europas. Die Vorstellung, dass Europa in der Lage sein sollte, unabhängig von den USA in einem breiten Spektrum von Sicherheitsthemen zu agieren, ist nicht neu, aber die jüngsten Ereignisse haben die Überzeugung mancher beflügelt, dass Europa lernen müsse, nun für sich selbst zu sorgen.

Ich glaube, wir müssen vorsichtig sein, was wir hier erreichen wollen. Europa braucht zweifellos bessere Verteidigungskapazitäten. Wir haben keine schwere Ausrüstung und unsere internen Grenzen verlangsamen Truppenbewegungen auf dem ganzen Kontinent. Die Beseitigung dieser Defizite ist von grundlegender Bedeutung, aber wir sollten vermeiden, in eine ideologische Falle zu tappen, in der stärkere europäische Fähigkeiten gegen die transatlantische Bindung ausgespielt werden. Dies ist kein Nullsummenspiel.

Europa kann die neuen Herausforderungen nicht alleine bewältigen

Vielmehr sollten wir uns die Frage stellen: Wäre die strategische Autonomie Europas angesichts der Instabilität an den Grenzen der EU und der vielen Brände rund um den Globus wirklich ausreichend? Ich glaube nicht. Ob es um ein wiedererstarktes Russland, die Konflikte im Nahen Osten, den Aufstieg Chinas oder die Herausforderung des globalen Terrorismus geht - Europa kann diese Herausforderungen nicht alleine bewältigen. Wir stehen vor wichtigen internen Differenzen vom Brexit bis zum Aufstieg des Populismus und antiliberaler Kräfte, deren Botschaften Russland geschickt mittels Desinformation und Beeinflussung unserer Wahlen befördert. Wir Europäer müssen daher auch das größere politische Bild betrachten und erkennen, dass unsere strategischen Interessen immer noch in einer starken transatlantischen Partnerschaft liegen.

Die politischen Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Trump können nicht beiseitegeschoben werden, insbesondere nicht seine selbstzerstörerischen und spaltenden Zolltarife. Länder, die zusammenarbeiten sollten, um das Regelwerk für den globalen Handel zu schreiben, wurden von Trump in einen Handelsstreit gezwungen, der es nun China ermöglicht, diese Regeln neu zu schreiben. Aber aus dem Handelsdebakel sollten wir eine wichtige Lehre ziehen: Europa ist eine Großmacht, aber wenn es darum geht, strategische Herausforderungen für den Welthandel zu bewältigen, reicht die Macht der EU allein nicht aus. Wir sollten einen Schritt zurücktreten und die gleiche Logik auf die strategische Autonomie in Verteidigungsfragen anwenden. Das Narrativ der transatlantischen Allianz, die auf unseren gemeinsamen Werten beruht, ist kein naives Märchen: Es ist die Lebensversicherungspolitik für unsere liberalen Demokratien.

An diesen Nato-Gipfel sollten wir keine allzu hohen Erwartungen stellen. Präsident Trump wird zwar aller Wahrscheinlichkeit nach keine grundsätzlichen Ankündigungen machen, das Verhältnis zu seinen europäischen Verbündeten zu verändern. Doch statt die EU und die Nato als Bausteine der Stabilität zu sehen, die es Amerika ermöglicht haben, zu einer Supermacht heranzuwachsen, beschuldigt er seine Partner nun, Amerika immer schon ausgenutzt zu haben. Dem Wirtschaftsforum in Davos sagte er allerdings auch, dass "America First" nicht Amerika alleine bedeute. Trump ist auf der Suche nach einem besseren Deal mit Europa, und ich glaube nicht, dass er davon Abstand nehmen wird. Allein der US-Kongress wird es ihm nicht erlauben.

Würden wir dagegen unseren Verpflichtungen des Nato-Gipfels in Wales nachkommen, könnten wir eine echte Win-Win-Situation schaffen: das transatlantische Sicherheitsbündnis zusammenhalten und gleichzeitig den europäischen Pfeiler darin stärken. Präsident Trumps Denken mag nicht von strategischer Natur sein, doch das von Europa sollte es sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4048000
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.07.2018/fie
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.