Verteidigung:Zurück auf die Insel

SZ Spezial

Illustration: Stefan Dimitrov

Kurswechsel in Zeiten der Konfrontation: 2005 zogen die letzten schwedischen Soldaten von Gotland ab - nun kann es Stockholm angesichts neuer Bedrohungen nicht schnell genug gehen, dort wieder Kampftruppen zu stationieren.

Von Silke Bigalke

Der Wind weht den Schnee zu kleinen Dünen auf. Gotland im Januar ist eisig, doch drinnen in der großen Halle ist es warm - und laut. Die Soldaten putzen ihre Panzer. Cher singt "Strong Enough" zu Industriestaubsaugerlärm und Werkzeugklirren.

Mattias Mikkelsen Bresgen kam im Juni auf der Insel. Er hatte gerade seine Grundausbildung beendet und wollte weg von zu Hause in Malmö. "Ich will etwas Neues ausprobieren", hat er im Rekrutierungsbüro gesagt. "Wir haben etwas total Neues für Sie", sei die Antwort gewesen.

Das stimmt nur halb. Die Idee, die schwedische Insel Gotland zu verteidigen, ist neu und gleichzeitig sehr alt. Noch in den 1990er-Jahren hatte Schweden dort vier Regimenter stationiert, dann wollte die Regierung sparen. 2005 verließen die letzten Soldaten die Insel. Zehn Jahre später, im Frühjahr 2015, beschloss das Parlament, zumindest eine Kampftruppe nach Gotland zurückzuschicken. Seither haben sich die Ereignisse überschlagen.

Gotland liegt südlich von Stockholm, zwischen Schweden und dem Baltikum. Einen Flugzeugträger hätte man kaum besser platzieren können. Wer Gotland kontrolliert, kontrolliert den Zugang zur Ostsee. Dass Schweden in den 1990er-Jahren beschlossen hat, alle Truppen von dort abzuziehen, zeigt, wie sicher sich das Land gefühlt haben muss. Überall wurde abgerüstet und eingespart.

"Wir wollen mehr tun", sagt der schwedische Verteidigungsminister

Bedrohungsszenarien - Fehalanzeige. Er habe das damals kritisch gesehen, sagt Verteidigungsminister Peter Hultqvist der Süddeutschen Zeitung: "Die Entscheidung, von Gotland abzuziehen, war falsch." Denn was auf der Insel passiere, habe direkte Auswirkungen auf die baltischen Länder, auf Finnland und das schwedische Festland. Er spricht von einer "neuen Sicherheitslage in unserer Nachbarschaft", zählt auf: Georgien 2008, die russische Krim-Annektierung 2014, der Konflikt in der Ukraine dauert immer noch an. "Wir brauchen eine solide militärische Präsenz auf Gotland. Wir wollen mehr tun", sagt er. Die schwedische Verteidigungskommission prüfe bereits, was die nächsten Schritte auf der Insel sein könnten.

Es ist nur ein Beispiel für die Kehrtwende in der schwedischen Verteidigungspolitik. Noch vor fünf Jahren hatte der damalige Oberbefehlshaber Sverker Göranson gemahnt, Schweden könne einen Angriff bestenfalls eine Woche lang abwehren. Nun hat die Regierung das Budget mehrfach erhöht, die Wehrpflicht wieder eingeführt, Verteidigungsabkommen mit Nachbarländern geschlossen.

Am deutlichsten sieht man die Veränderungen auf Gotland, dort geht vieles schneller und wird größer als anfangs geplant. Aus der kleinen Kampftruppe, welche die Regierung 2015 schicken wollte, wird nun ein ganzes Regiment - das erste Regiment, das Schweden seit dem Zweiten Weltkrieg neu aufbaut. Oberst Mattias Ardin kommandiert es. "Wir senden ein Signal, dass Schweden Gotland verteidigen wird, wenn nötig", sagt er. Hätte man Langstreckenraketen auf der Insel, für Flugabwehr und gegen Schiffe, könnte man quasi entscheiden, wer die Ostsee überqueren darf und wer nicht. Er hat diese Waffen auf Gotland nicht. Aber er ist da, um zu verhindern, dass sie womöglich jemand anderes dort installieren könnte.

Bisher plant er mit 400 Soldaten, etwa 150 sind schon da. Auch das ging schneller als geplant: Ursprünglich sollte die Gotland-Kampfgruppe nach ihrer Ausbildung im Sommer 2017 auf die Insel ziehen. Doch Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén wollte so lange nicht warten. Im September 2016 war er mit einer anderen Truppe für eine Übung auf Gotland. Danach verkündete er den überraschten Soldaten, dass sie nun dort bleiben würden, um die Zeit zu überbrücken. Die Soldaten waren so überrumpelt, dass sie erst mal ihre Familien anrufen mussten, erzählt eine, die dabei war. Warum die Eile? Er könne nicht sagen, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Gotland oder Schweden gebe, sagt Minister Peter Hultqvist heute. Er sagt aber auch: "Die Sicherheitslage hat sich ständig verschlechtert."

Die Halle mit den Panzern steht an der Westküste, außerhalb von Visby. Tofta heißt die Gegend, dort gibt es einen gro-ßen Truppenübungsplatz. Mattias Mikkel-sen Bresgen erklärt, dass er mit seinem Panzer, einem Combat Vehicle 90, in die Luft, aufs Wasser und auf Infanterie schießen könne. Der 20-jährige Hauptgefreite bedient die Kanone. Szenarien, die sie häufig übten, seien der Angriff durch Fallschirmjäger oder anlegende Boote. "Wir sind eine Insel, da gibt es leider viele Möglichkeiten", sagt er.

Im September haben 19 000 schwedische Soldaten gemeinsam mit Einheiten aus Dänemark, Finnland, Norwegen, dem Baltikum, Frankreich und den USA trainiert. "Aurora" war die größte Militärübung in Schweden seit 23 Jahren. Wie Finnland ist Schweden nicht Mitglied der Nato. Beide Länder haben aber ein Gastland-Abkommen unterzeichnet, nun dürfen Nato-Truppen zum Beispiel Häfen, Flughäfen und andere Infrastruktur nutzen. Auch deswegen sind Leute vor der Übung auf die Straße gegangen, haben gegen Aufrüstung und die Nähe zur Nato protestiert. Kritiker befürchten, dass beides die Spannungen vergrößern, Schweden in einen Konflikt hineinziehen könnte.

Der Hauptgefreite Bresgen hat Gotland gemeinsam mit Finnen und US-Marines verteidigt. Spricht man dann auch über Russland, über die Nato? Sie hätten sich eher über ihre Waffen ausgetauscht, sagt er, klopft auf den Panzer. Während der Übung war ohnehin nicht viel Zeit zum Reden. Wenn er sonst mit seiner Einheit draußen ist, sie abends ums Lagerfeuer sitzen, sprechen sie schon darüber, was wäre, wenn es doch mal einen Angriff gäbe.

Während er auf Gotland Fahrzeuge putzt, treffen sich die Politiker im schwedischen Sälen zu ihrer jährlichen Sicherheitskonferenz. Sie streiten dort viel über Begrifflichkeiten. Die Verteidigungskommission, in der Regierungs- und Oppositionsparteien vertreten sind, hat kurz zuvor ihren Bericht zur "Gesamtverteidigung" veröffentlicht. Dabei geht es darum, wie sich das schwedische Volk auf Krieg vorbereiten sollte. Ein bewaffneter Angriff, steht in dem Bericht, könne "nicht ausgeschlossen" werden. Bisher hatte es immer geheißen, ein Konflikt sei "unwahrscheinlich". Außenministerin Margot Wallström und andere Sozialdemokraten fanden die Änderung deswegen unnötig alarmierend, obwohl das Verteidigungsministerium sie ja mit abgesegnet hatte. Der Streit um die Wortwahl hat sicher auch damit zu tun, dass die Parteien Sicherheit zum Wahlkampfthema erklärt haben.

Ein aggressiveres Training der Russen gehört zur veränderten Sicherheitslage

Mattias Mikkelsen Bresgen hat die Debatte verfolgt. Er lebt mit seiner Freundin auf Gotland, die stelle Fragen. "Sorry, ich bin nicht der Verteidigungsminister, ich weiß auch nicht mehr", sagt er dann. Sein Gefühl? "Wenn ich glauben würde, dass es morgen Krieg gibt, würde ich wohl nicht gerade mein Fahrzeug zerlegen." Neben ihm steht Hauptmann Mats Karlsson, schaut den jungen Männern bei der Arbeit zu. 15 Jahre lang hat er als Offizier auf der Insel gedient, bis die letzten Soldaten 2005 abgezogen waren. "Schon damals haben wir gesagt, dass es hier irgendwann wieder ein Regiment geben wird", sagt er. "Aber wir hätten nicht gedacht, dass es so schnell geht." Als sein Regiment aufgelöst wurde, ist er auf der Insel geblieben und Geschichtslehrer geworden. Er weiß um Gotlands historische Bedeutung, nennt es den "Nabel der Ostsee".

Der Stadt Visby sieht man ihren frühen Reichtum an, eine ehemalige Hansestadt mit vielen Kirchen und Kaufmannshäusern. Die fast 800 Jahre alte Stadtmauer steht noch. Gotland wurde im Mittelalter von Dänen überfallen, von Freibeutern erobert, vom Deutschritterorden eingenommen. Anfang des 19. Jahrhunderts waren auch die Russen kurz hier, im Russisch-Schwedischen Krieg. "Es wird immer eine Bedrohung gegen Gotland geben", sagt Hauptmann Mats Karlsson.

Gegenüber der Garage bauen sie jetzt das neue Hauptquartier. Bis es in einigen Jahren fertig ist, haben die Soldaten Umkleiden, Duschen und Waschmaschinen in einem Containergebäude. In der Küche steht eine Armada aus Mikrowellen und großen Kühlschränken. Die Soldaten leben nicht hier, sondern in ihren private Wohnungen. Das mobile Gebäude wurde vorher als Schule genutzt, Hauptmann Karlsson hat darin unterrichtet. Wie eine Schnecke, die ihr Haus mitbringt, scherzt er.

In den alten Militärunterkünften in der Stadt Visby ist heute die Regionalverwaltung untergebraucht, außen Backstein, innen renoviert mit viel Glas und Galerien. Christer Stoltz ist zuständig für die Notfallplanung in der Region. Ende 2016 bekam er einen Brief von der schwedischen Zivilschutzbehörde MSB, alle Gemeinden sollten sich auf Krieg und andere Krisen vorbereiten. Überall im Land werden nun Bunker und Schutzräume inspiziert. Allein auf Gotland gibt es 350 davon, für die sich seit Dekaden niemand interessiert hat und von denen viele als Garagen und Abstellkammern genutzt werden. Im Mai will die Zivilschutzbehörde eine Krisenbroschüre an alle Haushalte schicken. Sie erklärt darin zum Beispiel, wie man sich für eine Woche ohne Heizung, Strom, fließendes Wasser, ohne Supermärkte wappnet. In einem Land, das sich lange sehr sicher gefühlt hat, sollen nun alle umdenken.

Christer Stoltz sitzt in dem Raum, in dem sich der Krisenstab trifft. Bald brauchen sie wohl einen zweiten Notfallraum, doppelte Sicherheit, aber noch gibt es keine konkreten Anweisungen, nur den Regierungsbericht. "Es wird etwa zehn Jahre dauern, bis wir wieder da sind, wo wir 1995 waren, bis wir all das Wissen zurückhaben." In der Broschüre wird es nicht nur um Krieg, sondern auch um Terrorangriffe, Cyberattacken, Naturkatastrophen gehen. Auf Gotland droht im Sommer oft Wasserknappheit, darüber machten sich die Leute wahrscheinlich mehr Sorgen als über militärische Angriffe, sagt Stoltz. Die meisten fühlten sich dennoch sicherer, seit das Militär zurück ist, meint er - auch wenn es noch nicht so viele grüne Uniformen auf den Straßen gebe wie früher.

Damals war Peter Molin Kommandeur des letzten Gotland-Regiments, heute sitzt er in der Provinzregierung der Insel. Gerade kommt er von der Sicherheitskonferenz in Sälen. Gotland sei dort quasi alle 15 Minuten erwähnt worden, so wichtig ist die Insel jetzt wieder. Er glaubt, dass in Zukunft weiter aufgerüstet wird. Sicher würde dann auch darüber diskutiert, die Patriot-Flugabwehrraketen aus den USA auf Gotland zu stationieren. Die Regierung verhandelt derzeit noch über den Kauf, hofft auf Lieferung ab dem Jahr 2020.

Können 400 Mann Gotland im Ernstfall verteidigen? "Wahrscheinlich nicht", sagt Molin und balanciert seine Kaffeetasse auf der Sessellehne. "Aber jetzt kann man nicht einfach mit kleinen grünen Männchen ohne nationale Abzeichen am Ärmel kommen, wie wir es auf der Krim und in der Ukraine gesehen haben. Das geht hier nicht, ohne einen Krieg auszulösen."

Der neue Kommandeur Mattias Ardin nennt das den Schwelleneffekt. Er sitzt am alten Militärflugplatz auf der anderen Seite von Visby, denn dort war Platz. Drinnen ziert ein Gripen, Schwedens Kampfflugzeug, als Fototapete die Wand. Sonst gibt es hier keine Flieger mehr. Wenn ein russischer Jet am schwedischen Luftraum kratzt, startet die Gegenwehr vom Festland aus. Das "aggressivere Trainingsmuster" der Russen gehört zur veränderten Sicherheitslage, die Mattias Ardin zurück nach Gotland gebracht hat. Er ist auf der Insel aufgewachsen, im Jahr 1999 mit den Streitkräften weggezogen. "Wir sollten nicht darüber fantasieren, was uns hinter der nächsten Ecke erwartet", sagt er. Alle paar Monate gibt es eine neue Entscheidung in Stockholm. Er habe genug damit zu tun, die alle umzusetzen.

Mattias Ardin war einer von denen, die im September 2016 überraschend auf Gotland geblieben sind. Damals, sagt er, hätte er nicht geglaubt, dass er schon im Jahr 2018 ein ganzes Regiment bekommen würde. "Es geht alles viel schneller als gedacht."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: