Verteidigung:Halbwüchsige unerwünscht

Die Bundesregierung lobt eifrig Gemeinsinn und Engagement junger Leute. Zur Wehrpflicht aber will niemand zurück. Das hat viel mit dem Wandel der Truppe zu tun.

Von Joachim Käppner und Jens Schneider

Es ist manchmal schon erstaunlich, in welch nostalgischer Verklärung Dinge erscheinen, nur weil es sie nicht mehr gibt. Die Wehrpflicht ist so ein Beispiel. Als sie 1956 eingeführt wurde, demonstrierten Hunderttausende dagegen. Man gewöhnte sich mit den Jahrzehnten daran, wirklich beliebt war der Pflichtdienst an der Waffe naturgemäß nie; er zwang Schulabgänger, bis zu 18 Monate in Uniform zu verbringen oder sich als Verweigerer demütigenden Gewissensprüfungen zu unterwerfen. Zur Abschreckung gegen einen Angriff der quantitativ überlegenen Panzerarmeen des Warschauer Pakts hielt allein die Bundeswehr eine halbe Million Mann unter Waffen; sie selbst warb mit Sprüchen wie "Wat mutt, dat mutt"; was sein müsse, müsse sein.

Dann aber musste es nicht mehr: Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion der kommunistischen Zwangssysteme herrschte auch in Deutschland Erleichterung, dass die Zeit der Hochrüstung und der latenten Kriegsgefahr vorüber war. Die Bundeswehr schrumpfte deutlich. Was aber blieb, war die Wehrpflicht. Obwohl auch das Kaiserreich und die Hitlertyrannei ihre Kriege mit Wehrpflichtarmeen begannen, galt der fakultative Dienst an der Waffe vor allem in der Union als fast unverzichtbare demokratische Errungenschaft. Dabei waren und sind ja auch die Berufssoldaten der Bundeswehr die viel beschworenen "Staatsbürger in Uniform".

Offenkundig jedoch ist die jetzt entbrannte neue Debatte um Wehr- oder Dienstpflicht mehr als eines jener Sommerlochthemen wie die angeblich in einem Allgäuer See nach Kinderbeinen beißende Schnappschildkröte Lotti, die nie jemand gesehen hat. Ausgelöst wurde die Diskussion von CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie hatte in Gesprächen an der Basis zuletzt oft gehört, dass viele Bürger sich gerade von jungen Leuten mehr Engagement wünschten. Die Diskussion trifft nun einen Nerv in einer Gesellschaft, die sich um die nachlassende Bindung zwischen Staat und Bürgern sorgt, und mehr noch in der Union, die sich einst im Jahr 2011 nur widerwillig von der Wehrpflicht verabschiedete.

Wie sehr die Politik diese Sehnsucht vieler Bürger nach mehr Gemeinsinn aufnehmen möchte, zeigt die Reaktion der Bundesregierung auf die Debatte an diesem Montag. Die Sprecher der Ministerien betonen, wie wichtig das Engagement junger Menschen ist, und wie gern man es fördern wolle. Ein Sprecher der Bundessozialministerin schwärmt vom Bundesfreiwilligendienst, an dem sich seit der Einführung schon 320 000 junge Menschen beteiligt hätten. "Wir freuen uns sehr, dass es nun eine Debatte darüber gibt, wie wir zivilgesellschaftliches Engagement weiter stärken können", sagt er.

Ähnlich klingt das beim Verteidigungsministerium. Gut und wichtig sei die Diskussion über ein allgemeines Dienstjahr, sagt der Sprecher von Ursula von der Leyen. Das Engagement von jungen Menschen könne ihrem eigenen Leben und dem Staat so viel bringen. Aber soll man die jungen Menschen auch dazu verpflichten? Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer spricht von einer parteipolitischen Debatte, die noch ganz am Anfang stehe. Es gehe da auch um die Abwägung von Grundrechten junger Menschen. Das Innenministerium erklärt, dass eine solche gesellschaftliche Pflicht verfassungsrechtlich genau geprüft werden müsse.

Große Skepsis herrscht aber auch bei der Frage, ob die Wehrpflicht wieder eingeführt werden solle. Dies stehe gar nicht zur Debatte, betont die Regierungssprecherin. Das hat viel damit zu tun, dass eine Wehrpflicht nach alter Art keinen Sinn ergeben würde, weil die Bundeswehr heute ganz anders ist als vor zwanzig Jahren.

Zwar würde für eine Rückkehr zur Wehrpflicht - und damit auch zum Zivildienst - ein einfaches Gesetz genügen. Denn die Pflicht ist nur ausgesetzt. Doch sagt der frühere General Klaus Naumann, der bis 1999 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses war: "Die Wehrpflicht ist ein erheblicher Eingriff in das Leben eines jungen Mannes - und was wäre eigentlich mit den jungen Frauen? Dieser Eingriff war nur gerechtfertigt durch eine potenziell existenzgefährdende Bedrohung der Bundesrepublik. Eine solche besteht heute nicht mehr." Zudem seien "in der Bundeswehr die Voraussetzungen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht überhaupt nicht mehr gegeben".

Auch eine allgemeine Dienstpflicht würde der Bundeswehr wahrscheinlich ja viel mehr Rekruten und Rekrutinnen zuführen, als sie beschäftigen könnte. Dieser praktische Punkt spielt in der Debatte erstaunlicherweise nur eine geringe Rolle. Doch die Bundeswehr hat gar keine Strukturen mehr, die Wehr- oder Dienstpflichtigen zu erfassen und einzuziehen; und selbst wenn: Es gäbe für diese keine Kasernen, keine Aufgaben, keine Ausbilder mehr. Die 2011 zur Berufsarmee umgebaute Bundeswehr bietet heute 12 500 Stellen für freiwillig Wehrdienstleistende. Selbst 2010, als weniger Wehrpflichtige denn je einberufen wurden, waren es 60 000. In diesen letzten Jahren der Wehrpflicht wurden halbe Jahrgänge ausgemustert oder als weniger tauglich zurückgestellt, die Mehrheit aus medizinischen Gründen, an die niemand recht glaubte, nicht mal die Musterungskommissionen selbst. Trotz der hohen Verweigererzahlen gab es schlicht zu viele Wehrpflichtige.

Ganz abgesehen davon, dass ein abermaliger Umbau der Truppe sehr viele zusätzliche Milliarden Euro kostete: Naumann zufolge "wäre die Bundeswehr außerstande, gleichzeitig die Ausbildung Wehrpflichtiger wieder einzurichten, ihre Nato-Verpflichtungen einzuhalten und Auslandsmissionen wie in Afghanistan und in Mali zu leisten". Hinzu käme noch: 2010 lag die Wehrpflicht bei nur noch sechs Monaten; die Armee benötigt heute aber überwiegend gut ausgebildete Experten für IT oder komplexe Waffensysteme und keine Halbwüchsigen, die gerade mal gelernt haben, unfallfrei ein G36-Gewehr zu halten. Die Stimmung in der Truppe geht, wie ein Insider sagt, daher eher in die Richtung: "Das Letzte, was wir uns zurzeit wünschen, ist die Rückkehr der Wehrpflicht."

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