Verstoß gegen Menschenrechte:Italien darf Bootsflüchtlinge nicht zurückschicken

Sie dachten schon, sie hätten es geschafft: 200 Flüchtlinge versuchten, mit dem Boot von Libyen nach Italien überzusetzen. Doch die Küstenwache brachte die Menschen kurzerhand zurück ins Land Gaddafis. Zu Unrecht, wie jetzt der Straßburger Gerichtshof entschieden hat. Auch auf See dürfe es keine Abschiebungen ohne Einzelfallprüfung geben - schon gar nicht in ein unsicheres Herkunftsland.

Roland Preuß

Sie hatten es fast geschafft. Kurz vor Lampedusa, der italienischen Insel zwischen Europa und Nordafrika, 30 Meilen vor dem Ziel ihrer Träume, tauchten die Schiffe der Grenzschützer auf. Die Rettung, dachten die Flüchtlinge in den drei Booten. Sie drängten auf die Schiffe, 200 Menschen, ausgetrocknet und durstig, sie lechzten nach einem besseren, sicheren Leben in Europa.

Der Motor ihrer Gummiboote war ausgefallen, drei Tage zuvor hatten sie in Libyen abgelegt, und es hätte nicht mehr lange gedauert, bis die ersten tot über Bord geworfen worden wären. Also sprangen die Menschen auf die Schiffe der italienischen Grenzschützer, auf denen Wasser und Essen lockte.

Zehn Stunden glaubten sich die Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea auf dem Weg nach Italien, eine ganze Nacht. Doch die Fahrt vom 6. Mai 2009 endete im Hafen von Tripolis, im damals noch von Gaddafi regierten Libyen. Die Menschen an Bord merkten das erst, als sie angekommen waren - in dem Land, das man getrost als Hölle für viele Flüchtlinge bezeichnen kann.

Es gibt Fotos von der Fahrt und der Ankunft, denn zufällig waren Journalisten des französischen Magazins Paris Match bei der Aktion an Bord. Die Bilder zeigen verzweifelte Aufschreie im Hafen von Tripolis - und einen Afrikaner, der einen italienischen Grenzschützer bekniet, sie nicht in Libyen zurückzulassen - vergebens. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun festgestellt, dass diese Vorgehen Roms Unrecht war.

Aufklärung dank Journalisten

Die Straßburger Richter hatten darüber zu entscheiden, was erlaubt ist und was nicht beim Umgang mit Migranten an der EU-Außengrenze. Dürfen Bootsflüchtlinge kurzerhand in das Herkunftsland zurückgeschickt werden? Dürfen sie dem Einfluss eines Diktators wie Gaddafi ausgesetzt werden, ohne dass geprüft wird, ob sie verfolgt sind? Müssen sie die Möglichkeit erhalten, Asyl zu beantragen, auch auf hoher See?

Dass die Frage überhaupt in Straßburg gelandet ist, verdanken die Kläger besonderen Umständen. Anders als in ähnlichen Fällen konnte der italienische Flüchtlingsrat mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR einen Teil der Zurückgeschickten in den libyschen Lagern aufspüren und 24 Vollmachten für Klagen einholen.

Dank der französischen Journalisten an Bord ließen sich die Vorgänge gut dokumentieren. Ergebnis: Die Flüchtlinge errangen einen Sieg, der die europäische Grenzschutzpraxis grundlegend verändern könnte.

Italien wusste von Gefahren für Flüchtlinge in Libyen

Die Straßburger Richter stellten fest, dass Italien gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat. So habe die Aktion das Verbot missachtet, dass niemand inhumaner Behandlung ausgesetzt werden darf - was bei Flüchtlingen in Libyen jedoch regelmäßig der Fall war. Sie wurden zumindest unter Gaddafi in Lager gesperrt, die teilweise von der EU mitfinanziert wurden, Menschenrechtsorganisationen haben Fälle von Folter dokumentiert.

Auf dem Papier existieren in Libyen zwar nationale Asylgesetze, doch das Land hat maßgebliche Grundregeln wie die der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht anerkannt. Die italienischen Behörden "wussten oder hätten wissen sollen, dass die Flüchtlinge einer Behandlung ausgesetzt würden, die gegen die Menschenrechtskonvention verstößt", schreibt das Gericht.

Hinzu kommt die Gefahr des sogenannten Refoulement: Die Flüchtlinge in Libyen seien nicht geschützt vor einer weiteren Abschiebung in ihre Heimatländer Somalia und Eritrea. In Eritrea inhaftieren und foltern die Machthaber Flüchtlinge bereits aus dem alleinigen Grund, dass sie ohne Erlaubnis das Land verlassen haben. Zudem bemängeln die Richter, dass die italienischen Grenzschützer nicht geprüft haben, ob Schutzbedürftige an Bord sind, und dass sie nicht darauf hinwiesen, dass jeder Asyl beantragen kann.

Italien hat all dem widersprochen und argumentiert, Libyen sei ein sicheres Land für Geflohene. Die Migranten seien in einer Rettungsaktion gemäß italienisch-libyschen Vereinbarungen zurückgebracht worden. Zudem hätten die Menschen gewusst, dass sie nach Libyen gefahren werden.

Dieser Version schenkten die Richter jedoch angesichts zahlreicher anderslautender Zeugenaussagen keinen Glauben. Das Urteil räumt zwar ein, dass es ungewöhnlich ist, über staatliches Handeln zu urteilen, das außerhalb des Staatsgebiets stattfindet. Doch die hohe See sei "kein Bereich außerhalb der Gesetze", schreiben die Richter. Die Flüchtlinge hätten also Rechtsschutz.

Praxis in Europa weit verbreitet

Das Urteil stellt eine Praxis an Europas Grenzen in Frage, die sich immer mehr ausgebreitet hat. Bootsflüchtlinge werden von nationalen Grenzschützern oder mit Hilfe der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in die Herkunftsländer zurückgebracht. Allein für das Jahr 2008 berichtet Frontex von fast 6000 Flüchtlingen, die in afrikanische Länder "umgelenkt" wurden.

Erst vergangenes Jahr konnte das Europäische Parlament durchsetzen, dass Frontex den Abgeordneten regelmäßig Auskunft geben muss. Wirklich transparent sind die Operationen dadurch aber nicht geworden.

Das Urteil könnte helfen, mehr Licht in die Geschehnisse auf hoher See zu bringen. Von den erfolgreichen Klägern wird allerdings nur ein Teil davon profitieren. Einige von ihnen leben heute in Benin, Malta, der Schweiz und Tunesien, ein Flüchtling hat es noch geschafft, in Italien Asyl zu erhalten. 16 Kläger sind während der Revolution in Libyen verschollen, zwei sind unter ungeklärten Umständen gestorben - zwei von Tausenden, die auf dem Weg nach Europa umkommen.

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