Deutsch-russischer Dialog:Wo Russen und Deutsche noch offen miteinander reden

Deutsch-russischer Dialog: Partner seit 1983: Erlangen (mit der Neustädter Kirche) und Wladimir (mit der Mariä-Entschlafens-Kathedrale).

Partner seit 1983: Erlangen (mit der Neustädter Kirche) und Wladimir (mit der Mariä-Entschlafens-Kathedrale).

Erlangen und Wladimir sind Partnerstädte. Seit 1983. Hier weiß man: Manche Ansichten mögen weit auseinander liegen, aushalten kann man das aber trotzdem.

Von Julian Hans und Frank Nienhuysen, Wladimir/Erlangen

Die Versuchsanordnung ist klassisch: ein festlicher Säulensaal, Tüll-Vorhänge vor den Fenstern, Männer in Anzügen, Frauen in Blusen. Auf den Tischen stehen steife Wimpel paarweise beieinander - schwarz-rot-gold und weiß-blau-rot. Das Experiment: Können Russen und Deutsche offen miteinander reden? Das Verhältnis zwischen Ost und West ist so schlecht wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Wenn Minister sich treffen, sagen sie höfliche Worte und fahren mit zerknirschten Minen wieder ab. Am kommenden Dienstag wird Angela Merkel es in Sotschi wieder versuchen. Was sollen dann erst Bürgermeister ausrichten?

Florian Janik hat sein Wochenende drangegeben, um aus Bayern nach Wladimir zu reisen. Der einstige Großfürstensitz liegt zwei Stunden von Moskau entfernt am Goldenen Ring; er ist berühmt für seine Kirchen aus dem 12. und das Gefängnis aus dem 18. Jahrhundert. Florian Janik, 37, Sozialdemokrat, ist seit drei Jahren Oberbürgermeister von Erlangen, der Stadt in Franken, die einst von den Hugenotten geprägt wurde. Der Mann mit den kurzen Koteletten hat damit auch die Verantwortung übernommen, eine in Jahrzehnten gewachsene Städtepartnerschaft mit Wladimir zu pflegen. Seit mehr als 30 Jahren besuchen sich Schulen und Sportvereine, Chöre und Anonyme Alkoholiker. Eine Partnerschaft, die so stabil ist, dass man auch über politische Fragen sprechen kann, jetzt erst recht, fand Janik. Und Olga Dejewa, 58, Bürgermeisterin von Wladimir und Mitglied der Kreml-Partei Einiges Russland, fand das auch.

Am Anfang waren es Kriegsveteranen, die sich für die Partnerschaft einsetzten

Jetzt sitzen Dejewa und Janik nebeneinander am Tisch mit den Fähnchen und sprechen über Migration. Zum Start des neuen Diskussionskreises wollten sie ein Thema setzen, das beide Gesellschaften beschäftigt, aber zu konfliktbeladen sollte es auch wieder nicht sein. "Über die Krim könnte man so eine Runde schwer machen", sagt Janik. Fast zwei Stunden reden die 30 Teilnehmer schon; Wissenschaftler, Mitarbeiter der Stadtverwaltungen, Vertreter von Kirchen und Gewerkschaften. Die Deutschen wollen darüber sprechen, wie Integration gelingen und zum Gewinn werden kann für Gesellschaft und Staat. Die Russen deklinieren alle Gefahren durch, die das Staatsfernsehen seit Beginn der Flüchtlingskrise in bedrohlichen Bildern ausmalt: Vergewaltigungen, Terrorismus, Ausbeutung der Sozialsysteme.

Janik hat sich zurückgehalten. Seine Mitarbeiter haben ihre Arbeit erklärt. Der Integrationsbeauftragte von Erlangen stammt aus Georgien, er teilt mit den Gastgebern die sowjetische Vergangenheit, spricht fließend Russisch. Aber man merkt ihm an, wie es ihn aufwühlt, wenn die Russen vor allem wissen wollen, wie man Migration bekämpft und faule Fremde dazu bringt, Deutsch zu lernen und zu arbeiten. Dann meldet sich Janik zu Wort. Flüchtlinge seien nur eine Form von Migration, sagte er. Siemens, die Universität, das Fraunhofer- und das Max-Planck-Institut seien darauf angewiesen, dass die besten Köpfe kommen und sich wohlfühlen. "Migration bringt uns voran."

Ein Vertreter der Gesamtrussischen Volksfront sitzt auch am Tisch. Sie wurde zur Unterstützung Putins gegründet. Was das denn bedeute, wenn Millionen Flüchtlinge nach Europa kämen und gleichzeitig die Nato ihre Infrastruktur bis an die Grenzen Russlands ausdehne, will der Mann von den deutschen Gästen wissen. Es ist nicht ganz klar, welchen Zusammenhang er zwischen den beiden Themen sieht. Aber offenbar ergibt sich daraus für ihn eine doppelte Bedrohung. "Ich würde es begrüßen, wenn man zwischen Russland und Europa wieder mehr zum Dialog über Sicherheit in der Lage wäre", antwortet Janik. Ein Bürgermeister als Diplomat.

Das ist möglich, wenn die Beziehungen auf einem festen Fundament stehen. Wenn Höflichkeitsadressen und Lobreden auf die deutsch-russische Freundschaft überflüssig sind, weil sich alle schon lange kennen. Wenn man weiß, dass manche Ansichten weit auseinandergehen, man das aber trotzdem aushält. Denn irgendwann kann man über das Eigentliche reden, über konkrete Probleme. Manchmal ist das Wichtigste, wie man eine gebrauchte Schlammpumpe von Erlangen nach Wladimir bekommt, eine Entwässerungsanlage, die in der russischen Stadt gebraucht wird.

Janik müsste das nicht machen. Von Bürgermeistern wird erwartet, dass sie Investoren in die Stadt holen, Umgehungsstraßen bauen und sich beim Stadtfest blicken lassen. In Erlangen gebe es aber auch viele Bürger, denen Internationalität wichtig sei, sagt Janik, "und sie investieren auch selber Zeit." Als Erlangen und Wladimir 1983 Partnerstädte wurden, ahnte niemand, dass die Sowjetunion bald kollabieren würde. Damals waren es Kriegsveteranen, die sich engagierten. Erlanger, die in Wladimir in Gefangenschaft waren, Männer aus Wladimir, die gegen die Wehrmacht gekämpft hatten. Dass es nach dem Vernichtungskrieg der Deutschen Versöhnung geben könnte, erschien unwahrscheinlich. Vielleicht ist diese Erfahrung ein Grund für die Zuversicht, in schweren Zeiten einen schweren Dialog zu führen.

Politik? Wird umschifft, so ist das oft

Wer einen Eindruck erhalten will, wie stabil die Partnerschaft ist, geht vom Zentrum Wladimirs Richtung Bahnhof bis zu einem hell gestrichenen Haus, zwei Stockwerke hoch, mit Fensterrahmen und Balkonen aus Holz im russischen Stil. Als die Stadt das Grundstück 1992 für ein Begegnungszentrum zur Verfügung stellte, stand hier eine windschiefe Ruine aus morschem Holz, rostigen Rohren und bröckelnden Ziegeln. Handwerker und Freiwillige aus Erlangen und Wladimir haben jahrelang gemeinsam Schutt abgetragen, Balken ersetzt, Heizung, Wasserleitungen und Elektrik erneuert. Heute trägt sich das Erlangen-Haus selber, mit Gästezimmern und Deutschkursen. Und wenn Besuch aus Deutschland da ist, wird im Garten gefeiert. Die Partnerschaft hat ein Zuhause.

Etwa 100 deutsch-russische Städtepartnerschaften gibt es, und wenn Politiker oder Wirtschaftsvertreter fordern, man müsse den Dialog mit Russland suchen, so findet er unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und abseits von Gipfeltreffen längst und immer noch statt. Wladimir und Erlangen würden trotz EU-Sanktionen gar nicht auf die Idee kommen, sich nicht miteinander auszutauschen. Die bayerische Stadt hat zwar noch mehr Partnerstädte, Stoke-on-Trent etwa, Beșiktaș oder Eskilstuna in Schweden, "aber allein der Austausch mit Wladimir ist so umfangreich wie mit allen anderen zusammen", sagt Peter Steger, der seit 1987 für Erlangen die Partnerschaften koordiniert. "Bei anderen Städten ist schon mal eine gewisse Ermüdung zu spüren, aber mit Wladimir ist es intensiv. Stadt und Zivilgesellschaft sind sehr interessiert. Und Geld ist für die Partnerschaft immer da gewesen."

Die junge Russin will vom Ausland lernen. Und in der Heimat für Fortschritte kämpfen

Irina Schadowa kann deshalb jetzt in Erlangen sein. Die Russin aus Wladimir sitzt an einem langen Tisch im Esszimmer einer Stadtwohnung. Der muss reichen für die sechs Bewohner und das Betreuungspersonal. An der Wand hängt ein strenger Haushaltsplan für die ganze Woche, penible Zeiten fürs Frühstück, Mittagessen, Abendessen, wer ist wann dran mit Kochen, Putzen, Einkaufen, wer hat Waschtag. Eine Wohngemeinschaft aus Borderlinern, schizophrenen oder depressiven Menschen. Irina Schadowa hilft. Drei Monate lang arbeitet die 21 Jahre alte Studentin als Hospitantin für die WAB Kosbach, die Menschen mit psychischen Erkrankungen betreut, ihnen Wohnung und Arbeit gibt, Ziele und Halt. Schadowa unterstützt sie jeden Tag und lernt dabei fürs Leben.

Mit psychisch Kranken reden, unbefangen, neugierig, ist für Sozialarbeiter in Russland eher eine Ausnahme als die Regel. Das Land ist noch immer geprägt von sieben Jahrzehnten Sowjetunion, in denen nicht zimperlich mit Menschen umgegangen wurde, die Probleme haben. "Im Grunde ist es so: Entweder ist man in einer Anstalt oder auf sich allein gestellt", sagt Schadowa. "Und in der Psychiatrie arbeiten vor allem Mediziner, Krankenschwestern, nicht Sozialarbeiter. So ein Zusammenleben mit Therapiehilfe und individueller Freiheit wie hier gibt es kaum bei uns. Man hat eher Angst vor diesen Menschen."

Dafür ist so ein Austausch ja da, dass sie ihre Eindrücke mitnimmt, zurück nach Russland. Schadowa will vom Ausland lernen, ihren neugierigen Freunden alles erzählen, aber sie denkt überhaupt nicht daran, ihre Heimat zu verlassen. Sie will für Fortschritte kämpfen, unverkrampfter mit den Menschen reden. Für so selbstverständlich hält sie das nicht. Politik? Wird umschifft, so ist das oft: Nicht einmal im Elternhaus wird offen darüber debattiert.

Nachdenkliche Stille, als Bürgermeister Janik nach der Veranstaltung mit seiner Delegation am Esstisch im Erlangen-Haus sitzt. Ist das Experiment geglückt? "Wir haben kaum etwas von den Russen erfahren", bemerkt eine. Immerhin wurden nicht nur Vorträge abgelesen, sondern es wurde wirklich gefragt und geantwortet. Die Neugier ist da. Sie kann Anfang sein. Das war schon einmal so. Damals, 1983.

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