Verschwundene Arctic Sea:Ein Piratenschiff für Moskau

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Die Arctic Sea war offenbar nie verschwunden, die Europäer kannten ihre Route. Sie griffen aber nicht ein, sondern überließen den Fall den Russen.

P. Blechschmidt, G. Herrmann, N. Richter und S. Zekri

Tagelang war der Holzfrachter Arctic Sea angeblich verschwunden, er erinnerte an die Sage vom Kapitän, der ewig über die Weltmeere segeln musste, ohne je in einen Hafen zurückzukehren. Am 12. August ließ Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew wissen, seine Marine solle die Arctic Sea "wiederfinden und befreien". Doch zumindest die Nato hat immer gewusst, wo sich das Schiff befand. "Man hat seinen Weg durch den Ärmelkanal, durch die Biskaya und vor der portugiesischen Küste permanent verfolgt", heißt es in Nato-Kreisen.

Moskau schickte die Marine und stellte das nach russischen Angaben angeblich von Piraten überfallene Schiff vor den Kapverdischen Inseln. Soldaten überwältigten die Entführer. (Foto: Foto: AFP)

Russlands Nato-Botschafter Dmitrij Rogosin gab jetzt sogar zu, vom 12. August an habe er aus Brüssel täglich "Aufenthaltsort, Kurs und Geschwindigkeit" erfahren. Die Russen, heißt es bei der Nato, hätten jedoch von Anfang an darauf bestanden, sie wollten das Problem selbst lösen. "Da haben wir uns bewusst rausgehalten. Sonst hätte es mächtige Verwicklungen gegeben."

"Herren des Verfahrens"

Die Geschichte vom verschwundenen Frachter mit russischer Besatzung - eine Legende. Die Europäer stört das nicht weiter; mit Ausnahme der Balten schien niemand in der EU daran interessiert zu sein, die Entführer zu stoppen oder das Verbrechen aufzuklären. Dabei ist die Arctic Sea - sie fährt unter maltesischer Flagge und gehört einer finnischen Reederei - ein Schiff der EU, und die angeblichen Piraten (unter ihnen mindestens ein Litauer) haben die Strafgesetze etlicher Staaten, darunter Schweden und Deutschland, verletzt.

Doch die Russen bleiben Herren des Verfahrens. Die Nato erklärt offiziell, es habe zur Absprache mit Moskau gehört, dass nur Russland die Öffentlichkeit informieren durfte.

Bis heute fehlt eine überzeugende Erklärung für die Vorfälle auf jenem Schiff, das angeblich Opfer des ersten jüngeren Piratenüberfalls vor Europas Küsten wurde. Dass EU und Nato dies so scheinbar desinteressiert hinnehmen, ist erstaunlich - nur ein Jahr nach dem Georgien-Krieg, der das Verhältnis zu Russland so schwer belastet hatte. Viele Beobachter können sich den Überfall nur damit erklären, dass das Schiff etwas schmuggelte, oder dass es an Bord zu einer Konfrontation russischer Banden oder Geheimdienste kam.

Kein Platz für Schmugglerware

Sollte die Arctic Sea etwas geschmuggelt haben, so kann es nicht sehr groß gewesen sein. Am 20. Juli erreicht die Arctic Sea, aus Kaliningrad kommend, um 14.30 Uhr den finnischen Hafen Pietarsaari. Bis zum nächsten Tag belädt die Hafengesellschaft den Frachter mit 7602 Kubikmeter Holz für Nordafrika. Der Hafenbetreiber hält es für ausgeschlossen, dass jemand zwischen dem Holz etwas versteckt habe. Vor dem Beladen sei die Ladefläche des Schiffs leer gewesen. Höchstens im Inneren des Schiffes hätte man etwas verbergen können, in Rumpf, Ballasttanks oder Maschinenraum. Am 22. Juli um 3.25 Uhr läuft die Arctic Sea aus, nach Algerien.

Am 24. Juli gegen zwei Uhr morgens kreuzt das Schiff zwischen den schwedischen Inseln Gotland und Öland. Plötzlich weicht es vom Kurs ab, wird langsamer und treibt einige Stunden in internationalem Gewässer. Am Vormittag setzt der Frachter seine Fahrt fort. Die schwedische Küstenwache und das Militär zeichnen das Manöver auf, aber niemand schöpft Verdacht; es könnte ja eine Maschinenpanne sein.

"Keine Probleme"

Ein überwältiger Pirat in einem Schlachboot, nachdem die Arctic Sea an den Kapverden angelegt hatte. (Foto: Foto: AFP)

Erst am 27. Juli geht bei der finnischen Polizei eine Anzeige des Russen Victor Matejev ein. Ihm gehört die finnisch-russische Reederei Solchart, in deren Auftrag die Arctic Sea unterwegs ist. Matejev berichtet, sein Schiff sei von Männern in einem Schlauchboot angegriffen worden, die sich als Polizisten ausgegeben hätten.

Spätestens jetzt hätten Europas Seebehörden im Bilde sein können. Sie hätten die Arctic Sea noch vor dem Ärmelkanal stellen können. Diese Meerenge, eine der meistbefahrenen und bestbewachten der Welt, erreicht die Arctic Sea am 28. Juli um 13.52 Uhr. Das Schiff meldet sich über Funk bei den Briten; es gebe keine Probleme. Von der Alarmmeldung der Reederei wissen die Briten angeblich nichts, erst am 3. August wollen sie von Interpol erfahren haben, dass etwas nicht stimmt.

Während die Arctic Sea noch im Ärmelkanal kreuzt, herrscht bei den Skandinaviern Verwirrung. Die russische Botschaft in Stockholm erkundigt sich im schwedischen Außenministerium, ob die Schweden einen Frachter gestoppt hätten. Am Abend landet der Fall bei der schwedischen Polizei, die am 29. Juli erkennt, dass wohl ein Verbrechen geschehen ist. Von der Reederei erhalten die Beamten Bilder, die misshandelte Matrosen zeigen.

Die Europäer übergeben den Fall an Russland

Erst jetzt leitet die finnische Polizei den Fall an Schweden weiter. Aber in Schweden glaubt man, dass die Angreifer die Arctic Sea wieder verlassen haben. In der Tat telefonieren die Ermittler am 31. Juli mit dem Kapitän der Arctic Sea. Er sagt, alles sei in Ordnung. Wahrscheinlich unter Zwang.

Dass der Frachter ungebetene Gäste an Bord hat, ist offenbar erst Anfang August klar, als die Arctic Sea nicht Kurs auf Gibraltar und das Mittelmeer nimmt, sondern auf die Kapverden. Die Europäer sind da offensichtlich erleichtert, dass der Frachter ihre Küsten hinter sich gelassen hatte und man den Fall nun Russland übergeben kann. Moskau zieht Schiffe aus einem Manöver im Mittelmeer ab, um die Arctic Sea zu stellen.

Entführung aus Not?

Es ist nicht ganz abwegig, dass die Arctic Sea schlicht Opfer von Verbrechern wurde. Dass es organisierte Kriminalität im Ostseeraum gibt, ist längst bekannt; Europol warnte zuletzt im Jahr 2008 davor. Dass sich Ganoven ein Boot, Schusswaffen und Polizeijacken besorgen und einen Frachter überfallen, ist zumindest möglich. Vielleicht dachten die Gangster, sie würden Drogen oder Waffen finden - etwas, das man mitnehmen kann, ohne dass je Anzeige erstattet wird. Womöglich fanden sie nichts und entführten das Schiff dann aus Not: Wären sie mit dem Schlauchboot geflohen, hätte man sie binnen Stunden gefasst.

"Der Piratenüberfall war eine glasklare Inszenierung", sagt dagegen Alexej Besborodow vom russischen Internet-Logistikportal Infranews. Warum erwähnte der russische Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow die Piraten erst lange nachdem die Arctic Sea gefunden wurde? Warum hatte die Mannschaft kein Notsignal abgesetzt? "Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit der Marine. Dass ein Seemann den SOS-Knopf nicht findet, ist unvorstellbar", sagt Besbodorow. Er vermutet, dass die Arctic Sea Schmuggelware geladen hatte, "kleinere Geschütze wie Panzerabwehrraketen oder heikle Chemikalien".

Wenn aber der Verdacht bestand, dass die Arctic Sea Waffen für einen Schurkenstaat transportierte, wie erklärt sich dann die Hilfe der Nato, wie das komplizenhafte Schweigen in Europa? Michail Woitenko, Herausgeber des Internetportals "Sovfracht Maritime Bulletin", sieht eine größere Verschwörung: "Russland wollte eine geheime Ladung in den Nahen Osten bringen. Wahrscheinlich nicht zum ersten Mal." Vielleicht waren es Waffen oder andere Güter, die Moskau peinlich waren, mit denen die Nato aber leben konnte.

Von Peter Blechschmidt, Gunnar Herrmann, Nicolas Richter und Sonja Zekri

© SZ vom 22.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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