Webster Tarpley erinnert sich genau an jenen Dienstag. Als wäre es gestern gewesen. Der Amerikaner erzählt, wie er nach dem Frühstück durch Berlin geschlendert ist, von seiner Pension in der Kantstraße hinüber zur TU, zur Technischen Universität. Dort erörtert ein Weltkongress gerade das Leben und Wirken von Gottfried Wilhelm Leibniz, und am Morgen jenes 11. September 2001 weist Webster Tarpley in einem fulminanten Vortrag nach, wie finstere Handlanger im Dienste von Venedigs Adelsrepublik im 18. Jahrhundert versuchten, den Leumund des deutschen Universalgenies zu zerstören: "Eine Riesensauerei war das."
So verstreicht Tarpleys Berliner Vormittag. Am Nachmittag dann, als daheim an Amerikas Ostküste der Tag beginnt und der Tod heranfliegt, hilft der Historiker mit dem schlohweißen Haar und der hohen, runden Denkerstirn einem US-Kollegen als Dolmetscher aus.
Tarpley spricht akzentfrei Deutsch, sowie Italienisch, Französisch, Latein und Russisch, und am Ende der Debatte zollt ihm das gelehrte Publikum dankend Beifall. Da geschieht es, da steht plötzlich ein fremder Mann in der Tür und brüllt die Nachricht in den Hörsaal: "Terroristen haben die USA angegriffen. Die Türme in New York sind zusammengebrochen, das Pentagon steht in Flammen."
An jedes Wort erinnert sich Webster Tarpley, bis heute. Er nimmt die Brille ab, streicht mit der Hand über beide Augen, ehe er sagt: "Ja, das war ein ziemlicher Schock." Er ist zurück in seine Pension geeilt, hat im Fernsehen die Horrorbilder vom Einsturz des World Trade Centers betrachtet. Und er hat begriffen. "Schon nach wenigen Minuten", so beteuert der heute 65-jährige Historiker, "war mir klar: So etwas kann nur eine Fraktion innerhalb der US-Kommandostruktur machen."
"Ich bitte Sie, seien Sie nicht naiv!"
Am Abend des 11. September 2001 ist Webster Tarpley in die Berliner Gedächtniskirche gegangen. Er hat die Kerzen gesehen, die Gebete vernommen, und er hat in sich diese brennende Sorge verspürt: "Ich wusste, dass der große Krieg kommen würde."
Und er kam - jener "Dritte Weltkrieg", den Webster Tarpley in dunklen Berliner Stunden hatte heraufziehen sehen: Afghanistan, Irak, George W. Bushs "Global War on Terror". "1,5 Millionen Menschen sind dabei gestorben", schätzt Tarpley, "und wir zählen noch, jeden Tag werden es mehr."
Nie hat er die offizielle Version von 9/11 geglaubt. Amerikas Schicksalstag, das Werk islamistischer Terroristen? "Lächerlich!" Dass ein Haufen angelernter arabischer Gotteskrieger präzise drei Flugzeuge in die Twin Towers und ins Pentagon steuern könnte, dass dem riesigen US-Sicherheitsapparat samt CIA und FBI rein gar nichts auffallen wollte und dass die gesamte Luftabwehr an der US-Ostküste versagte? Tarpley schüttelt den Kopf, schnappt nach Luft: "Ich bitte Sie, seien Sie nicht naiv!"
9/11 hat Tarpley nie mehr losgelassen. Und umgekehrt lässt er nicht locker. Er umklammert das Verbrechen, er lebt dafür und davon, seine Version des dreitausendfachen Mordes vom 11. September 2001 zu verbreiten. Sein Buch "Synthetic Terror - Made in USA" erscheint zum zehnten Jahrestag in fünfter Auflage, all die DVDs, Aufsätze, Vorträge und Interviews, die er vorrangig über das Internet vermarktet, ernähren ihn.
Selbsternannte Wahrheitsfinder
Tarpley war immer ein Rebell, ein Linker und einstiger Aktivist der obskuren LaRouche-Politbewegung. Tarpley, selbsternannter "Philosoph der Geschichte", deutete die Dinge stets anders als die Mehrheit; misstrauischer. Nun ist er professioneller Verschwörungstheoretiker, und einer der Köpfe einer Bewegung, deren Anhänger in den Vereinigten Staaten "Truther" heißen. Denn sie wollen nichts als "die Wahrheit" - ihre Wahrheit.
"Truth Now!" oder "911 Truth" - mit solchen Plakaten ziehen Hunderte meist linke Demonstranten regelmäßig durch Manhattan. Abertausende US-Bürger sehen George W. Bush oder seinen sinistren Vize Dick Cheney als Drahtzieher der Attentate, und Millionen Menschen weltweit glauben, Washington habe die Terroristen gewähren lassen. Als Motiv unterstellen sie den damals Regierenden, sie hätten das Volk kriegslüstern aufwiegeln wollen für die Feldzüge nach Kabul und Bagdad, die ihre neokonservativen Vordenker längst ausgeheckt hatten.
In Umfragen bekunden mehr als ein Drittel aller Amerikaner tiefes Misstrauen gegen die von Regierung, Untersuchungskommissionen und Massenmedien verbreiteten Erklärungen, wonach einzig und allein Al-Qaida-Terroristen die Täter waren, trotz aller Behördenpannen und mancher Rätsel im Detail. 2009 erklärten 27 Prozent der linken und zehn Prozent der rechten US-Wähler, Bush habe das Blutbad zumindest gebilligt.
Tarpley ist so etwas wie ein Chefideologe der Wahrheitsbewegung. Einer, der den großen konspirativen Überbau liefert für die vielen Details und Ungereimtheiten, die andere Truther zusammengetragen haben. Der Franzose Thierry Meyssan zum Beispiel lieferte mit seinem 2002 erschienenen Buch "L'effroyable imposture", der "schreckliche Betrug", eine Art Gründungsdokument der Bewegung. Er ist der Spezialist für "Pentagate" - den Mythos, wonach das Pentagon nicht von einer Boeing 757, sondern von einer Rakete getroffen wurde. Passanten bezeugen gleichwohl, sie hätten Flug AA77 kurz vor dem Crash gesehen, zudem wurden die Passagiere per DNS-Analyse identifiziert.
Oder Richard Gage: Er ist die führende Stimme der Gruppe "Architekten und Ingenieure für die 9/11-Wahrheit". In 600 Bilder langen Diavorträgen legt er minutiös dar, dass die Twin Towers sowie das Stunden später eingestürzte Gebäude Nr. 7 des World Trade Centers nur durch eine Serie vorab installierter Bomben zerstört worden sein können.
Ähnlich argumentiert der Physiker Stephen Jones, der den Einsatz von pyrotechnischen Brandbeschleunigern vermutet. Gage und Jones gelten als Märtyrer: Der eine zahlte für seine 9/11-Mission mit dem Verlust von Heim und Ehefrau, der andere verlor seine Professur in Utah.
Eine diffuse Subkultur
Der kanadische Journalist Jonathan Kay hat zwei Jahre lang im Milieu der Wahrheitsbewegung recherchiert. Sein jüngstes Buch "Among The Truthers" ("Unter Truthern") beschreibt eine diffuse, von niemandem gesteuerte Subkultur, die in kleinen Gruppen von Gleichgesinnten agiert - und die sich in der Weite des World Wide Web in Zirkelschlüssen wechselseitig bestätigt. "Wie Echokammern für Paranoide" wirke das Internet, schreibt Kay, weil die Truther vorwiegend Internetseiten läsen, die ihre vorgefassten Meinungen untermauerten.
Die Truther sind überzeugt, 9/11 sei "ein Insidejob" gewesen - also kein Anschlag äußerer Feinde, sondern ein Werk, das im Innern der eigenen Regierung angezettelt wurde. Aber, so Kay, "eine kohärente Geschichte davon, was ihrer Meinung nach wirklich geschah am 11. September", könne die Bewegung nicht aufbieten. Truther stellten Fragen, hätten jedoch nie Antworten.
Jonathan Kay glaubt, die USA seien bis heute traumatisiert von den Anschlägen. 9/11 habe "wie ein Erdbeben tiefe Risse durch das Herz von Amerikas politischer Mitte gerissen und zwei zunehmend ideologisch polarisierte Lager geschaffen". Das amerikanische Volk habe endgültig sein Vertrauen in die etablierten Institutionen - Regierung, Parteien, Gewerkschaften, Medien - verloren, weshalb in beiden politischen Lagern nun wilder denn je konspirative Theorien wucherten.
Die vorwiegend linken Truther, im Bunde mit einigen libertären Anti-Staats-Geistern von rechts, sehen Bush und Cheney als Massenmörder. Derweil floriert im konservativen Milieu Amerikas die Mär der sogenannten "Birther", wonach Barack Obamas hawaiianische Geburtsurkunde gefälscht und der Mann im Weißen Haus ein illegitimer Usurpator sei. Knapp die Hälfte bekennender Republikaner glaubten 2010 an solcherlei Betrug - und daran, dass Obama ein verkappter Muslim sei.
Die 9/11-Zweifel gären weltweit. Auch in Deutschland, wo Webster Tarpley seine Bücher und DVDs im schrillen Sortiment des Kopp-Verlags feilbietet, sind 90 Prozent der Bürger laut einer Umfrage vom Dezember vorigen Jahres überzeugt, dass Washington "die ganze Wahrheit über die Anschläge vom 11. September 2001 verschweigt."
Schattenregierung hinter den Kulissen
Im Gespräch räumt Tarpley ein, auch er kenne nicht die volle Wahrheit. "Nein, ich weiß nicht, wer genau die Täter waren", sagt er. Und doch lächelt er triumphierend: "Aber ich weiß, wo wir sie suchen müssen." In der US-Luftwaffe, an Schlüsselstellen der Geheimdienste, an den Schaltpulten des zivilen Regierungsapparats hätten jede Menge "Maulwürfe" gesessen, die zusammen eine Art Schattenregierung bildeten. Und diese Macht im Verborgenen ließ dann eine Elitetruppe sogenannter Techniker gewähren, die mit Hightech und höchster Perfidie die Anschläge exekutierten. "Die Kommandozelle war wahrscheinlich in einer privaten Sicherheitsfirma", meint er. Also ein Unternehmen mit Söldnern wie Blackwater? Er grinst: "Das haben Sie gesagt."
Die Auftraggeber, die Masterminds hinter 9/11, verortet Tarpley an der Wall Street. Selbst Dick Cheney, den die meisten Truther für den Inspirator hausgemachten Terrors halten, sei nur eine Marionette gewesen. Nein, die Fäden gesponnen und gezogen habe jenes "anglo-amerikanische Imperium", das seit Ende des 19. Jahrhunderts die Zeitläufte zu kontrollieren trachte.
Tarpley nennt Namen großer Stämme der Finanzwelt: Rockefeller, Morgan, Mellon. Den Verdacht, da schwängen antisemitische Motive mit, weist er empört zurück: "Dies ist eine Finanzoligarchie aller Ethnien und Religionen." Anno 2001 habe die US-Weltmacht geschwächelt, die Bush-Regierung gewankt - da habe "das Schurkennetzwerk" des Imperiums per Staatsstreich zugeschlagen und mit dem Islamismus der Nation einen neuen Feind geschenkt.
"Nützliche Trottel"
Mohammed Atta und seine fliegenden Komplizen hingegen, da ist sich Tarpley sicher, seien nur "Patsies" gewesen. "Nützliche Trottel" also und "Sündenböcke", die die Wut der Welt auf die Muslime lenken sollten. Tarpley mutmaßt, die tödlichen Jets seien vom Boden per Fernsteuerung in ihre Ziele gelenkt worden. Atta und seine Kumpanen hätten wahrscheinlich bis Sekunden vor ihrem Tod nicht begriffen, was mit ihnen geschah.
So sei es schon Lee Harvey Oswald widerfahren, dem später erschossenen Mörder von Präsident John F. Kennedy. Und so sei es bis heute: Jener Anders Behring Breivik, der im Juli in Oslo mit einer Bombe erst acht Menschen tötete, ehe er 69 Jugendliche in einem Camp der regierenden Sozialdemokraten erschoss, habe niemals allein gehandelt. Es gebe Indizien für einen zweiten Schützen und für ein Komplott. Vermutlich stecke das Nato-Bündnis dahinter, weil Norwegen die Allianz in Libyen mit seinem Ausstieg aus dem Lufteinsatz geschwächt habe: "Die Nato hat Norwegen bestraft. Deshalb hat Breivik die Kinder von Norwegens herrschender Klasse angegriffen."
Belege für seine Nato-Theorie hat Tarpley nicht. Auch für seine Deutung von 9/11 fehlen ihm die Beweise. Aber er sammelt Indizien, unermüdlich. Über die Jahre hat Tarpley 46 behördliche Tests und militärische Manöver identifiziert, die "so gut wie jeden Aspekt von 9/11" abdeckten.
Das letzte habe er vorige Nacht entdeckt. "Das ist die größte Dichte von Übungen in der US-Geschichte", sagt er. Zivilschutztraining, simulierte Flugzeugentführungen und Abstürze, Ablenkungsmanöver, Terrortests: "Manche dieser Operationen waren Teil des Plans, die wurden von Übungen zu Elementen der wirklichen Anschläge", glaubt er. Tarpleys Finger wandern auf der linierten Tischdecke auf und ab, als füge er imaginäre Beweisstücke zusammen.
Er müht sich ab, und vor vier oder fünf Jahren wähnte sich Tarpley vor dem Durchbruch. "Die Bewegung hatte enorm an Kraft gewonnen", erinnert er sich. Er sagt, die Arbeit der Truther habe bei den Kongresswahlen 2006 erheblich zum Triumph der Demokraten über Bushs Republikaner beigetragen.
Zerfall der Bewegung unter Obama
Dann jedoch kam Obama. Der berauschende Wahlkampf des schwarzen Senators zog 2007 und 2008 Millionen an: "Obama hat uns allen Sauerstoff geraubt." Die Truther erstickten, auch die Antikriegsbewegung brach zusammen. Tarpley ist überzeugt, das anglo-amerikanische Imperium habe Obama genau zu diesem Zweck rekrutiert. Und diese Mutmaßung hilft ihm zu erklären, warum der angebliche Staatsmord der Bush-Regierung bis heute nicht von Obama enthüllt und angeprangert wurde: "Ich bitte Sie, der ist doch ein Mann desselben Systems."
Dass der Aufstieg von Barack Obama zum US-Präsidenten einherging mit dem Zerfall der Truther-Bewegung, das bezeugt auch Matt Sullivan. "Früher tagten wir wöchentlich, heute nur noch einmal im Monat", sagt der Mitbegründer von "DC 911 Truth", der Truther-Gruppe von Washington, D.C. Früher erschienen bis zu 40 Aktivisten im Vorstadt-Bungalow der Sullivans, heute kommen nur noch 20, um die nächste Aktion zu planen. Oder um die Rock Creek Free Press einzutüten: Die linke Alternativzeitung bringen Matt Sullivan und seine Frau Elaine seit 2007 monatlich in 15.000 Exemplaren kostenlos unters Volk, um gegen Amerikas Kriege und für die Wahrheit vom 11. September zu kämpfen. Sie machen alles in Heimproduktion, am PC im Durchgang zur Küche. In der Ecke des Wohnzimmers stapeln sich Pappkartons: "Das ist unser Archiv."
Früher waren die Sullivans brave, gut-gläubige Demokraten. Der 11. September stimmte Matt misstrauisch. "Ich spürte, da stimmt was nicht", sagt er. Wirklich erschüttert haben den 55-jährigen Computerfachmann dann der Irak-Krieg und die falschen Behauptungen der Bush-Regierung über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen: "Wenn die da lügen, tun sie's auch anderswo."
Matt und Elaine recherchierten im Internet, entdeckten Thierry Meyssans Schriften über "Pentagate" und die Zweifel daran, dass ein Terrorist mit offenbar miserabler Flugausbildung eine Boeing 757 so waghalsig wie zielgenau ins Erdgeschoss des Verteidigungsministeriums manövrieren konnte. Matt hatte auf seinem PC die Software eines Flugsimulators installiert und spielte die entscheidenden Minuten wieder und wieder nach: "Unmöglich! In 99 von 100 Versuchen schaffst du's nicht."
Im Herbst 2005, am Rande einer Buchlesung von Webster Tarpley, gründete sich die DC-Truthergruppe. Das Heck des weißen Prius, des Hybrid-Autos der Sullivans, ist seither mit Aufklebern übersät, die nach der Heimkehr aller US-Truppen und nach "der Wahrheit" über 9/11 schreien. Anders als Tarpley glauben die Sullivans, dass Dick Cheney die Spinne im Netz von 9/11 war. George W. Bush habe wahrscheinlich nichts gewusst. "Der?", sagt Elaine mitleidig, "der könnte das doch nicht."
"Wir müssen aus der Geschichte lernen"
Einige Truther verkünden inzwischen übers Internet den Rückzug: "Ich gebe auf, viel Glück euch allen!" Auch die Sullivans wirken müde. Sie sind nicht verbittert, sie bleiben gelassen und freundlich, auch wenn sie ihr Gegenüber nicht überzeugen können. Sie werden nicht aufgeben, denn sie sind gefeit gegen jede Versuchung, sich von der Gegenseite beeindrucken zu lassen: "Wenn wir recht haben, dann muss die Vertuschung logischerweise der größte Teil ihrer Operation sein."
Am 11. September 2011 werden Matt und Elaine Sullivan vors Weiße Haus ziehen, mit Trudy, ihrem riesigen, grauen "Wahrheits-Elefanten" aus Plastik. "Den mögen die Touristen so gern", sagt Elaine. Die Sullivans begreifen ihren Widerstand als Patriotismus. Das sieht Webster Tarpley genauso. "Wir müssen aus der Geschichte lernen", sagt der Historiker, der seinerzeit über Leibniz und eine venezianische Verschwörung dozierte: "Lernen für die Zukunft - sonst kommt der nächste große Knall."