Klimaschutz-Protest:Kalkulierter Regelbruch

Extinction Rebellion - Berlin

Polizisten tragen eine Aktivistin vom Potsdamer Platz in Berlin.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Wie weit dürfen Aktivisten wie jene von "Extinction Rebellion" gehen, bis die Justiz sie stoppt? Die deutsche Rechtsprechung hat sich die Antwort seit Mutlangen und Brokdorf nicht leicht gemacht.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Geschichte des friedlichen Blockierens führt über Orte wie Brokdorf, Mutlangen und Wackersdorf. Dort haben sich Menschen auf die Straße gesetzt, um die Welt vor sich selbst zu retten - und hinterher haben Gerichte darüber gebrütet, was genau das nun war. War es Gewalt? War es verwerflich? Oder nennt man es einfach nur Demonstrationsrecht und Versammlungsfreiheit, wenn Menschen für große Ziele auf die Straße gehen? Insofern steht die Aktion von "Extinction Rebellion", mit der sie den Verkehr in Berlin lahmgelegt hat, in der Tradition des kalkulierten Regelbruchs. Damals gegen die nukleare Bedrohung, heute gegen die Klimaverderber. Also jedes Mal gegen Entwicklungen mit Apokalypse-Potenzial.

Die Rechtsprechung hat bei diesem Thema einen langen, gewundenen Weg zurückgelegt, hin und her gerissen zwischen der Furcht des Juristen vor der rohen Unordnung des Straßenprotests und dem beharrlichen Versuch, das Versprechen des Artikel 8 des Grundgesetzes einzulösen, der Versammlungsfreiheit. Was haben sie miteinander gerungen! 1986 ging es um eine viertelstündige Sitzblockade vor dem US-Militärlager Mutlangen, aus Protest gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen. Zu entscheiden war, ob das Gewalt ist, wenn sich 70 Personen fünf Militärlastern entgegenstellen. Wohlgemerkt: Gewalt der Menschen gegen die Laster. Der Erste Senat war gespalten, es stand vier zu vier, das hieß: Ja, es war Gewalt. Wegen der "psychischen Zwangswirkung" der Demonstranten gegen die Lkw.

Neun Jahre sollte es dauern, bis das Gericht diesen "vergeistigten Gewaltbegriff" wieder einkassierte, mit einer zarten Mehrheit von fünf zu drei. Aber dem Bundesgerichtshof war der Ansatz der Kollegen Verfassungsrichter zu liberal. Er ersann eine Rechtsfigur von diabolischer Schläue: Mag sein, dass blockierende Demonstranten keine Gewalt gegen den vor ihnen bremsenden Verkehr ausüben - aber spätestens ab der zweiten Reihe der blockierten Autos sei es doch Gewalt, weil da eine physische Barriere aufgerichtet werde. Außerhalb der Juristenwelt begreift das wirklich niemand mehr, aber dabei ist es bis heute geblieben.

Den Begriff "ziviler Ungehorsam" hat das Verfassungsgericht wie eine heiße Kartoffel angefasst

Allerdings ist die Diskussion hier nicht stehen geblieben. Denn selbst wenn die Blockierer ein wenig von dieser "Gewalt" ausüben, wird daraus noch nicht zwingend eine strafbare Nötigung. Davor muss abgewogen werden, und an dieser Stelle kommt nun endlich die Versammlungsfreiheit mit ihrer ganzen verfassungsrechtlichen Wucht ins Spiel. Der Zweck heiligt nicht alle Mittel, aber einige schon. "Unvermeidbare Wirkungen" einer Kundgebung sind ohnehin hinzunehmen. Man kann nun mal nicht demonstrieren, ohne irgendjemanden zu behindern. Zudem prüfen die Gerichte, wie die Aktion angelegt ist. Dauer, Umfang, Ankündigung, Ausweichmöglichkeiten, all dies kann für eine Strafbarkeit eine Rolle spielen. Ob die Richter Abrüstung oder Klimaschutz für sinnvoll halten, ist irrelevant. "Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischen Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt", schrieb das Verfassungsgericht im Jahr 2011.

Das juristische Schicksal von Blockaden wie nun in Berlin entscheidet sich also auf dem nicht so schmalen Grat zwischen Symbolik und Maßlosigkeit: Ist da nur ein wenig Sand ins Getriebe gestreut worden? Oder sollte das ganze Getriebe lahmgelegt werden? Ob die Aktionen von "Extinction Rebellion" strafrechtlich geahndet werden, dürfte daher vor allem vom Fingerspitzengefühl der Strafverfolger abhängen - aber ein bisschen Bestraftwerden gehört ja offenkundig zum Protestprogramm.

Den Begriff "ziviler Ungehorsam" hat das Verfassungsgericht übrigens behandelt wie eine heiße Kartoffel. Im Urteil von 1986 zitiert es zuerst die konservativen Staatsrechtler, für die ziviler Ungehorsam genau eine Sache war, nämlich Rechtsbruch. Dann erwähnt es Friedensforscher, die das Konzept als Korrektiv für die "Unvollkommenheiten des demokratischen Willensbildungsprozesses" sehen, der eben ein System von Versuch und Irrtum sei. Zwei Sätze später lässt es die Idee fallen: "Im vorliegenden Zusammenhang besteht kein Anlass, auf diese Problematik näher einzugehen."

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