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Versailler Vertrag:"Für die Franzosen waren die Deutschen Verbrecher"

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Mit dem Versailler Vertrag zerstoben die Hoffnungen der deutschen Demokraten auf einen milden Frieden. Historiker Gerd Krumeich über eine erniedrigende Inszenierung, linke Illusionen und das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg.

Interview von Barbara Galaktionow

Am 28. Juni 1919 wurde der Versailler Friedensvertrag unterzeichnet. Damit endete formell der Erste Weltkrieg. In Deutschland hatte man sich nach dem Sturz des Kaiserreichs im November 1918 Hoffnungen auf mildere Friedensbedingungen gemacht. Doch die Realität sah anders aus. Den Deutschen wurden harte Reparationen auferlegt - und sie mussten die Schuld für den Krieg auf sich nehmen. Historiker Gerd Krumeich erläutert, welche Demütigungen die Deutschen beim Friedensschluss hinnehmen mussten, wie Versailles den Verlauf der Weimarer Republik belastete und warum man auch auch heute noch auf die Verlierer einer Situation besonderes Augenmerk richten sollte.

Krumeich gilt als einer der führenden deutschen Weltkriegsexperten. Zuletzt hat er ein Buch über die Folgen des Kriegsendes in Deutschland veröffentlicht (Die unbewältigte Niederlage, Herder-Verlag, München 2018).

SZ: Herr Krumeich, wie lief die Unterzeichnung des Friedensvertrages im Schloss von Versailles vor 100 Jahren ab?

Gerd Krumeich: Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs hatten sich eine spezielle Inszenierung ausgedacht. Im Spiegelsaal von Versailles, dort wo Bismarck 1871 das Kaiserreich ausgerufen hatte, wurde der Delegation aus Berlin ein lebendiger "Beweis" für die deutschen Menschheitsverbrechen vor Augen geführt. Vor den deutschen Abgesandten wurde eine Gruppe von fünf Gueules cassées platziert, also Soldaten mit schweren Gesichtsverwundungen. Einem fehlte die Nase, einem anderen das halbe Kinn, einer hatte eine Binde überm Auge. Das war offensichtlich so traumatisierend, dass kein beteiligter Deutscher in seinen Memoiren oder Berichten über Versailles in einem Wort darauf eingegangen ist. Auf den üblichen Bildern von der Vertragsunterzeichnung ist diese Szene nicht zu sehen. Deshalb ist die Geschichte auch völlig verschüttet gewesen. Erst vor etwa zehn Jahren hat der französische Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau eine Postkarte entdeckt, auf der die Gueules cassées zu sehen sind, und das öffentlich gemacht.

Diese Szenerie stand ja in einer ganzen Reihe von Demütigungen, denen die deutschen Kriegsverlierer ausgesetzt waren.

So ist es. Die erste große Demütigung war, dass die Deutschen nicht zu den Friedensverhandlungen eingeladen wurden. Dann stellte die Verantwortlichkeitskommission im März 1919 in ihrem Bericht fest: Die Deutschen haben diesen Krieg geplant und brutalst durchgeführt. Dafür müssen sie bestraft werden. Drittens reisten die Deutschen Mitte April nach Versailles. Auf dem Weg dorthin wurden sie übrigens, wie der Journalist Victor Schiff so anschaulich berichtet hat, langsam durch das verwüstete Gebiet gefahren mit ihrem Zug. Die deutschen Delegierten konnten das kaum aushalten und weinten - so hatte sich keiner von denen den Krieg vorgestellt. In Versailles angekommen, wurden sie in ihrem Hotel eingesperrt wie Verbrecher. Sie durften nur in schriftlicher Form mit den Siegern verkehren. Und so ging es weiter, bis hin zur Übergabe der Friedensbedingungen, bis hin zur Unterzeichnung des Vertrags.

Dabei hatte sich die neue demokratische Regierung in Berlin nach dem Sturz des Kaiserreichs ganz anderes erhofft - nämlich mildere Friedensbedingungen. Woher rührte diese Erwartung?

US-Präsident Woodrow Wilson hatte Anfang Oktober 1918 in einem Briefwechsel gesagt, er verhandle überhaupt nur mit einer demokratisch gewählten Regierung. Mit den alten Gewalten könne es nur Kapitulation geben. In Deutschland war diese Aussage auch eines der großen Motive für die Demokratisierung der Reichsverfassung. Deshalb erwarteten die Deutschen, nun auch vernünftige Friedensbedingungen zu bekommen - und mussten schließlich erkennen, dass das absolut nicht der Fall war. Sie fühlten sich betrogen.

Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner ging in seiner Distanzierung von der alten Reichsführung sogar so weit, explizit die alleinige Kriegsschuld Deutschlands einzuräumen. Genau dieses Bekenntnis wurde dann aber von den alliierten Mächten als Beweis gegen Deutschland gewendet. Geradezu tragisch, oder?

Max Weber hat es als "Narretei" bezeichnet. Weber hat aufgrund der Eisnerschen Veröffentlichungen in der Frankfurter Zeitung im Januar 1919 einen sehr berühmten Artikel geschrieben über Schuld und Krieg. Da klagt er über diese banausischen Narren, die sich das so vorgestellt haben.

Aber war es denn völlig abwegig, dass sich das revolutionäre Deutschland bessere Friedensbedingungen erhoffte?

Man kann viel erhoffen. Doch die deutsche Zivilbevölkerung, auf deren Gebiet der Krieg ja nicht stattgefunden hatte, für die die Front letztlich sehr fern war, konnte sich einfach nicht vorstellen, was der Krieg in Frankreich angerichtet hatte. 13 Departements waren nahezu zerstört und 500 000 Häuser. Der ganze Norden Frankreichs war kaputt. Die Franzosen verlangten, dass Deutschland zahlen muss, auch weil sie Geld brauchten. Die Franzosen waren hochverschuldet bei den Amerikanern; Briten und Deutsche waren im Übrigen auch aufs Äußerste verschuldet. Dazu kam natürlich der über vier Jahre ungeheuer propagandistisch aufgestachelte Zorn auf den deutschen Aggressor, auf den Boche, den Barbaren. Für die Franzosen waren die Deutschen Verbrecher, weil sie 1914 den Krieg angefangen hatten.

Ging es bei der Frage der Kriegsschuld nicht vor allem um die Rechtfertigung der massiven Reparationsforderungen? Haben die Deutschen dem Vorwurf erst selbst so hohe Bedeutung verliehen, indem sie so darauf herumritten?

Die Deutschen spitzten es tatsächlich auf diese Frage zu, aber sie waren damit nicht alleine: Wer hat Schuld am Weltkrieg - diese Frage stand im Zentrum des Interesses aller Länder. Das hat damals natürlich sehr viel geheißen. Da waren, wie Clemenceau am 17. Juni 1919 sagte, sieben Millionen Tote - man wusste ja damals nicht, dass es noch sehr viel mehr waren. Das Blut von sieben Millionen Toten, so Clemenceau, "düngt den Boden Europas" und die Deutschen sollten alleine daran schuld sein. Wie konnte man mit diesem Vorwurf leben? Wo die Deutschen doch bisher dachten, sie hätten einen Verteidigungskrieg geführt.

Hätten die Deutschen den Versailler Vertrag auch einfach nicht unterschreiben können?

Wer will's wissen? Der deutsche Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann hielt den Vertrag für unannehmbar - und trat zurück. Auch Max Weber riet als Sachverständiger der deutschen Delegation dazu, nicht zu unterschreiben. Ob der Krieg dann tatsächlich wiederaufgenommen worden wäre? Kenner der Materie in Frankreich bezweifeln das. Sie sind der Ansicht: Die französischen Frontsoldaten wären auf keinen Fall mehr marschiert.

Die empfundene Schmach und die harten Bedingungen des Versailler Vertrags befeuerten in Deutschland die Debatte darüber, ob nicht die Revolution verantwortlich sei für diese extreme Niederlage, die sogenannte Dolchstoßlegende entstand. Sie sehen darin einen realen Kern - das müssen Sie erklären.

Der Gedanke, dass Deutschland noch hätte siegen können und nur von kommunistischen Juden oder jüdischen Kommunisten in der Heimat daran gehindert worden sei - das ist die Dolchstoßlegende, wie die Nazis sie propagiert haben. Und die verbreitete nach Versailles ihre ganz zerstörerische Kraft. Doch der Punkt für die meisten Zeitgenossen war nicht die Frage: Hätten wir noch siegen können? Der Krieg war verloren, das wussten sogar die verantwortlichen Militärs. Es ging um die Frage: Hätten wir einen milderen Frieden bekommen können?

Und das war nach der Revolution nicht mehr möglich?

Sehen Sie, noch am 30. Oktober 1918 sagte der alliierte Oberkommandierende, Marschall Ferdinand Foch, im Alliierten Rat, man dürfe den Deutschen nicht zu schwere Bedingungen stellen, sonst könnte sie das dazu bewegen, noch einmal zu kämpfen. Die Deutschen standen da noch in Nordfrankreich und Belgien. Nicht nur die deutschen, auch die französischen und die britischen Soldaten wollten angesichts eines offenbar bevorstehenden Friedens nicht mehr kämpfen, das ist ganz klar. Keiner wollte mehr sterben zu dem Zeitpunkt. Doch am 8. November vormittags - die Revolutionäre hatten in München bereits die Macht übernommen und die Revolution in Berlin war in vollem Gange - sagte Foch in Compiègne zum deutschen Verhandlungsführer Matthias Erzberger sinngemäß: "Sie haben nichts mehr zu verhandeln." Das war der riesige Unterschied. Noch "im Feindesland stehend", wie es damals hieß, hätte man womöglich bessere Friedensbedingungen erzielen können als nach einer Kapitulation.

Sie behaupten also, dass die Revolutionäre, die einen demokratischen Staat aufbauen wollten, dem damaligen Deutschland geschadet haben, wenn auch, ohne es zu wollen?

Wenn Sie es so zuspitzen wollen, ja. Aber ich habe nicht ein Wort der Kritik, dass die Revolutionäre es anders hätten machen können. Für sie war der Krieg eben auch so weit weg, sie konnten nicht ahnen, was der Krieg für Frankreich bedeutete und auf welche Unnachgiebigkeit sie da treffen würden.

Ihnen zufolge belastete ein bislang unbeachtetes Weltkriegstrauma, das sich aus der krassen Niederlage ergab, die Weimarer Republik. Woran machen Sie das fest?

Ich muss als Historiker versuchen, an die Menschen von damals dranzukommen. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre ein Soldat von damals: Ich habe die Schlachtfelder von Verdun und Somme überlebt, ich habe nur alle vier Wochen meine Unterhosen gewechselt und ich habe gesehen, wie der Kamerad neben mir durch eine Explosion zerrissen wird. Ich habe all das ausgehalten in der Überzeugung, dass es für Deutschland notwendig ist. Dann komme ich zurück. Und statt großer Ehren und Triumphbögen heißt es bloß: "Ja schön, dass du wieder da bist, aber jetzt ordne dich bitte ein, du wirst einfach genauso versorgt wie die Zivilbeschädigten." Deutschland war unfähig, der Gefallenen zu gedenken, die Verwundeten zu würdigen, gemeinsam eine Gedenkkultur zu entwickeln. Viele Soldaten haben es trotzdem genauso gemacht, sie waren froh, ihr Gewehr in die Ecke zu stellen. Doch es gab eben auch 200 000 bis 400 000, die mit dieser Behandlung nicht zufrieden waren. Die Stahlhelmer und so weiter, die keineswegs bereit waren, Frieden zu schließen und sich einzuordnen.

Hatten nur kämpfende Soldaten das Trauma des verlorenen Krieges oder erstreckte sich das auf die Deutschen insgesamt?

Ich weiß, dass sich diese Auseinandersetzung durch alle Schichten der Weimarer Republik zog, aber exakt lässt sich das schwer sagen. In Deutschland gab es 1928/29 - also zehn Jahre nach dem Krieg - eine Explosion des Kriegsgedenkens. Plötzlich wollten Millionen Menschen Remarques "Im Westen nichts Neues" lesen. Ich habe mich gefragt, was war da los? Und so bin ich auf die Idee eines kollektiven Traumas gekommen. Hunderttausende hatten dasselbe erlebt: die Niederlage an sich - und dann noch die Schmach von Versailles. In zwei Gruppen war das Trauma besonders verbreitet. Unter den Soldaten und bei den Kriegskindern. Die führenden Nazis entstammten fast immer der Kriegskinder-Generation. Man muss sich einmal vorstellen, was das hieß, wenn man mit 15 Jahren dastand und war vollgepaukt worden mit Siegesnachrichten und auf einmal war alles nur noch der letzte Mist. Wie wolltest du das denn verstehen? Wie konnte es dazu kommen? Und dann kam da einer und hat eine falsche, aber simple Antwort: "Der Jude war's."

Das klingt nach einem direkten Weg vom Kriegstrauma zu Hitler. Ist Ihre Sicht nicht zu fatalistisch? Andere Historiker wie zum Beispiel Robert Gerwarth betonen, dass es in der Weimarer Republik eine enorme Aufbruchstimmung gegeben hat und der Ausgang des demokratischen Experiments offen war.

Es ist richtig, dass meine Gesamtsicht recht düster ist. Ich übersehe die Aufbruchstimmung nicht, auch nicht die vielen demokratischen Errungenschaften, und ich will auch nicht sagen, dass Weimar scheitern musste. Vielleicht hätte es ja andere Wege der Trauma-Überwindung geben können. Aber dass Weimar scheiterte, war kein Zufall und ist auch nicht hauptsächlich mit der Weltwirtschaftskrise zu erklären. Diese Krise hat andere Länder auch schlimm getroffen, die deshalb aber nicht in den Faschismus abstürzten. Für mich ist die Ausgangsbelastung, nämlich die nicht verstandene Niederlage, und dann noch "Versailles", einfach zu stark gewesen und hat der Republik den inneren Frieden versagt, der nötig gewesen wäre.

Warum blieb das kollektive Trauma nach dem Zweiten Weltkrieg aus? Die Deutschen haben ihn ja auch verloren - und dass sie ihn angezettelt haben, steht außer Frage.

Das ist eine ganz andere Situation. Der Krieg war komplett nach Deutschland gekommen. Es stand kein Haus mehr und kein Stein mehr auf dem anderen in den Städten. Die Zivilisten hatten alles erlebt, was die Soldaten auch erlebt hatten. Jeder wusste, dass das kein Verteidigungskrieg gewesen war. Die Deutschen waren besiegt und besetzt und wussten, dass sie Schrecklichstes angerichtet und mitgetragen hatten. Daraus kann sich kein kollektives Trauma entwickeln, auch wenn viele Menschen individuell traumatisiert wurden.

Mir scheint Ihre These von der nichtverarbeiteten Niederlage womöglich auf ein anderes Ereignis in der deutschen Geschichte zu passen: den Zusammenbruch der DDR. Sehen Sie das auch?

Das ist ein sehr interessantes Phänomen, dieser Zusammenbruch der DDR und was die Politik da für Fehler gemacht hat in der Integration der neuen Bundesbürger. Um es bildlich zu sagen: In Berlin haben sie auf der Mauer noch getanzt, als schon die ersten Notare und Grundstückspekulanten in Leipzig einfielen.

Ich meine vor allem den Punkt, dass die Erfahrung der DDR-Bürger entwertet wurde und ein Gefühl der Trauer um den verlorenen Staat in all der Wendeeuphorie nicht opportun schien.

Es ist damals sicherlich nicht genug getan worden, um den Menschen in Ostdeutschland ihr Selbstbewusstsein zu lassen. Sie sollten jetzt einfach dem Westen angegliedert werden, hier war alles besser, es gab neue Telefonzellen, mehr Geld und - basta! - nun sollten sich die Ostdeutschen arrangieren. Das wurde ohne Rücksichtnahme durchgesetzt, auch auf Gefühle, dass vielleicht auch die DDR trotz aller Schikanen manche Vorzüge hatte, insbesondere in der Gleichstellung der Frauen und der Gesundheitsvorsorge. Das hätte man ja diskutieren können.

Muss man also gerade auf die Verlierer einer historischen Situation immer ein besonderes Augenmerk richten?

Absolut, man muss schauen, dass der Verlierer nicht zu viel verliert - das ist extrem wichtig. Auch heutzutage in weltpolitischen Auseinandersetzungen. Wie geht man um mit Leuten, die in einer historischen Situation verloren haben, aber weiterleben? Wie kann man die integrieren? Das ist eine interessante Aufgabe. Aber nicht für den Historiker.

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