Süddeutsche Zeitung

Verroht die Jugend?:Die neue Machokultur

Der Fall der Leichenschändung durch vier Jugendliche ist ein besonders abstoßender Fall. Hemmungslos verstümmelten sie den Körper des Toten. Fachleute sprechen von einem Einzelfall und warnen vor Pauschalurteilen. Dennoch: In sozialen Brennpunkten wächst die Gewaltbereitschaft.

Heidrun Graupner

Joest Martinius reagiert auf den Traunreuter Fall wie jeder gute Arzt und befasst sich erst einmal mit der genauen Diagnose. Vier Jugendliche schänden betrunken in der Walpurgisnacht eine Leiche. "Was sind das für Jugendliche?", fragt der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater, "wo stehen sie in ihrer Entwicklung, in welchen Umständen leben sie?"

Und er zögert, diesen Fall als ein Zeichen zu nehmen, dass die Jugend zunehmend verroht, weil Alkohol und Gruppendynamik vielleicht die entscheidende Rolle gespielt haben.

"Vielleicht aber findet sich in diesem Fall von allem etwas, auch die Verrohung von Jugendlichen", sagt Martinius. "Wir haben in den vergangenen drei Jahrzehnten die Augen verschlossen vor dem, was sich unter dem Mantel von Gleichgültigkeit und nicht von Verständnis in Schulen und Elternhäusern entwickelt."

Einzelfälle?

Jugend im Ausnahmezustand? Jugendliche delektieren sich an Gewaltvideos, sie quälen Kinder, sie drehen Filmchen von Prügelszenen und nennen dies "Happy Slapping". Sie schauen bei einer Vergewaltigung zu und helfen nicht, sie sind nicht bestürzt, wenn sie einen Suizidtoten im Wald finden, sondern schänden ihn.

"Einzelfälle", so warnt jedoch der Kriminologe Christian Pfeiffer, "darf man nicht verallgemeinern." Nach der Kriminalitätsstatistik hat die Gewalt bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen acht Jahren um ein Viertel abgenommen. Rückläufig seien die Tötungsraten, sagt Pfeiffer, aber auch Verletzungen in Schulen, bei denen ein Arzt eingeschaltet werden musste.

Der Grund für diese Entwicklung sei, dass in den Familien Gewalt gegen Kinder seit 1998 zurückgegangen sei. Außerdem schwiegen die Opfer von Gewalt nicht mehr, sie trauten sich mehr zu und zeigten die Täter an. Die Polizei werde heute in die Schulen geholt, ob von den Rektoren oder den Schülern, zudem gebe es in den Schulen viele Konzepte, um Gewalt zu verhindern.

"Der Gesamttrend ist positiv", betont Christian Pfeiffer, "aber es gibt Brennpunkte", zum Beispiel die Hauptschulen und zwar vor allem im Norden Deutschlands, in denen nur noch zehn Prozent der Schüler Deutsche seien und Perspektivlosigkeit die Stimmung beherrsche.

Und es gebe ernste neue Phänomene wie eben "Happy Slapping", wo sich eine bedrohliche Zunahme abzeichne. Mitte Mai will Pfeiffer dazu eine umfassende Untersuchung vorlegen.

Vor allem männliche Jugendliche ohne Perspektive ziehen sich nach den Worten Pfeiffers in eine Machokultur zurück, deren Ursachen in den Schulen viel stärker diskutiert werden müssten. Die Mädchen haben sich von den Knaben abgekoppelt, 57 von 100 Abiturientinnen sind Mädchen, 64 von 100 Schulabbrechern dagegen Jungen, die dann ihre Verunsicherung mit Machogehabe kompensieren.

Cool sein, Männlichkeitswahn und Alkohol gehören dazu, das Kübeltrinken bis zum Umfallen. Und Jugendliche werden mit süßen alkoholischen Mixgetränken, die in verharmlosender Werbung angepriesen werden, immer häufiger zum Trinken verführt.

Machoverhalten durch Gewaltvideos

Man habe festgestellt, sagt Pfeifer, dass Gewaltvideos die Machokultur von Jugendlichen förderten, "Gewaltvideos sind ein Desensibilisierungs-Programm". Es würde ihn nicht wundern, wenn sich die vier Jugendlichen in Traunreut Horrorfilme angeschaut hätten, in denen ja ein solcher Umgang mit Leichen vorgelebt werde.

In einer Region ohne jede Technik, erzählt der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiater Andreas Warnke, habe man Fernsehen eingeführt. Und man habe beobachtet, wie mit dem Fernsehen die Gewalt bei den Jugendlichen zugenommen habe. Einen direkten Zusammenhang zwischen Gewalt und Fernsehen will Warnke mit diesem Beispiel allerdings nicht herstellen.

"Kinder reagieren auf Horrorvideos anfällig, die eine Bereitschaft für Gewalt in sich tragen", betont er, sei es durch Leistungsschwächen, durch die Unfähigkeit, Konflikte zu lösen oder durch psychische Störungen.

Als besonders wichtig bezeichnete es Warnke, den Alkoholkonsum Jugendlicher zu bekämpfen, was bisher auch von der Politik vernachlässigt werde. "Bei den meisten Delikten, die wir in der Klinik betreuen, spielt Alkohol eine Rolle."

Warnke warnt aber vor allem davor, bei Kindern und Jugendlichen, die gewalttätig werden, nicht nach den psychosozialen Umständen zu fragen, nicht zu untersuchen, ob eine Persönlichkeitsstörung der Grund ist. Dies sei vor allem der Fall, wenn kleine Kinder vor dem zehnten Lebensjahr straffällig würden. "Und diese Kinder haben eine schlechte Prognose, man kann ihnen nur schwer helfen."

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SZ vom 5.5.2006
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