Süddeutsche Zeitung

Verkehrspolitik:In Deutschland herrscht ein Straßenkampf

Es wird so heftig wie nie über den Bau neuer Autobahnen gestritten. Die Grünen fordern einen Stopp, Verkehrsminister Scheuer lehnt das ab. Doch die Regierung ist zum Handeln gezwungen.

Von Markus Balser, Berlin

Aktivistin Marissa baumelt an diesem Morgen weit oben in den Baumkronen des Dannenröder Forstes. Vor einigen Tagen sei es losgegangen, sagt sie in die Kamera. Maschinen hätten die ersten Bäume des bis zu 300 Jahre alten Bestands im benachbarten Herrenwald gefällt - trotz seltener Arten wie den Siebenschläfern in ihrem Baumhaus. So lange Menschen in den Bäumen hingen, verzögere sich das Fällen aber "erfreulich lange", sagt Marissa im Erklärvideo für die Mitstreiter einer Greenpeace-Ortsgruppe. Sonst gehe es ganz schnell. "Die Harvester machen in einer Minute gleich mehrere Bäume platt. Greifarme schnappen sich den Baum, sägen ihn durch, kippen ihn um. Zack."

"Zack". Das wollen sie hier verhindern. 150 Aktivisten sollen inzwischen in den Gipfeln des Protestwalds in Mittelhessen zwischen Kassel und Gießen wohnen. Ihr Ziel: Den vor Jahren beschlossenen Weiterbau der A 49 und auch die Rodung des Waldes in letzter Minute zu stoppen. Der Wald ist gerade dabei, den Hambacher Forst im Kohlerevier in Nordrhein-Westfalen als Schauplatz Nummer eins in der Klimadebatte abzulösen. Immer mehr Aktivisten kommen nach Hessen. Vor einer guten Woche zog auch Carola Rackete in ein Protestcamp. Die 32-Jährige, die als Kapitänin eines Rettungsschiffes im Mittelmeer bekannt wurde, sieht hier den Ort, an dem ein weiterer Gesellschaftsstreit entschieden werden könnte: "Der Wald", sagt Rackete, "hat Symbolwert für das ganze Land". Hier wird in eine Infrastruktur des letzten Jahrhunderts investiert, die das Klima aus dem Gleichgewicht bringt."

Dass der "Danni" so schnell eine bundespolitische Debatte auslösen würde, hätten sie selbst hier oben in den Baumkronen nicht gedacht. Doch seit die Grünen-Spitze vor einer guten Woche einen Stopp für den Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen im ganzen Land forderte, stecken Aktivisten wie Marissa mittendrin in der Debatte um die deutsche Verkehrswende.

In Berlin schlagen die Wellen immer höher. Als "Autohasser" beschimpfte die FDP die Grünen-Fraktion gerade im Bundestag. "Ein Straßenbau-Moratorium ist Gift für den Wirtschaftsstandort Deutschland und eine harte Attacke gegen die Mobilität", ereiferte sich CSU-Landesgruppen-Chef und Ex-Verkehrsminister Alexander Dobrindt. Und auch der aktuelle Bundesverkehrsminister wetterte: "Die Großstadt-Grünen verstehen nicht, was ganz Deutschland braucht", sagte Andreas Scheuer (CSU). Die Attackierten schlugen zurück und machten klar, was sie ins Zentrum des nächsten Bundestagswahlkampfes stellen wollen. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warf etwa der SPD vor, eine "Asphaltierer-Partei" zu sein.

Die Klimaziele der Regierung fordern gerade im Verkehr ein radikales Umsteuern

Um die Sache ging es bei den wechselseitigen Angriffen in den vergangenen Tagen allerdings nur selten. Dabei macht ein Blick auf Zahlen klar, dass Deutschland in der Verkehrspolitik kaum weitermachen kann wie bisher. Die Klimaziele der Regierung fordern gerade im Verkehr ein radikales Umsteuern. Bis 2030 soll der Sektor seine Emissionen um 40 Prozent senken. Das heißt weniger Autoverkehr. Die klimafreundliche Bahn soll dafür ihre Passagierzahlen auf 280 Millionen pro Jahr verdoppeln. Man werde Verkehr von der Straße auf die Schiene holen, kündigt Scheuer immer wieder an. Und dafür auch das Netz der Bahn ausbauen. Denn das arbeitet am Limit und könnte im aktuellen Zustand mehr Verkehr gar nicht bewältigen.

Das Problem ist nur: Da wo sich die Zukunft des Verkehrs entscheidet, bei den Investitionen in die Infrastruktur, ist eine Wende nicht erkennbar. Seit zweieinhalb Jahrzehnten gilt die Priorität dem Ausbau der Straßen. Das Bahnnetz schrumpfte in dieser Zeit sogar deutlich. Während die Länge des bundesweiten Schienennetzes seit der Bahnreform 1994 von 41 000 auf 33 000 Kilometer zurückging, legte das Autobahnnetz von 11 000 auf 13 000 Kilometer zu.

Das deutsche Straßennetz aus Autobahnen, Bundes-, Landes und Kreisstraßen ist eines der dichtesten in Europa. Insgesamt ziehen sich 230 000 Kilometer Asphalt durch Deutschland. Selbst im vergangenen Jahr kamen deutlich mehr Straßen- als Bahnkilometer hinzu. Das Autobahnnetz wuchs laut Regierungsangaben um 38 Kilometer. Bei Bundesstraßen waren es 122 Kilometer Neubau und zwölf Kilometer Erweiterung. Und bei der Bahn? Die Regierung kommt für das vergangene Jahr gerade mal auf sechs zusätzliche Kilometer.

Auch für die kommenden zehn Jahre ist keine Wende in Sicht. Die Pläne bis 2030 sind in der Verkehrspolitik schon fast zementiert. Der bereits 2016 beschlossene Bundesverkehrswegeplan gilt als Road Map für den Neu- und Ausbau überregionaler Verkehrswege in Deutschland für dieses Jahrzehnt.

Er sieht insgesamt Investitionen von 270 Milliarden Euro vor. Die Hälfte der Mittel fließen in Straßen, 40 Prozent in Bahnstrecken, der Rest in Flüsse und Kanäle. Zwar sollen zusätzliche Mittel, zum Beispiel aus dem Klimapaket, in den Bahnsektor fließen, etwa in dessen Digitalisierung und damit auch in einen dichteren Takt auf dem Bahnnetz. Doch reicht das?

Fachleute melden Zweifel an. Der vor Jahren vorgelegte Bundesverkehrswegeplan habe wenig mit dem aktuellen Bedarf zu tun, warnt Verkehrsforscher Andreas Knie, Professor am Wissenschaftszentrum Berlin. Mit der Corona-Krise werde das Geld im Verkehrssektor knapper, der Verteilungskampf größer. Längst sei fraglich, ob die geplanten Milliarden wirklich in den Ausbau der Bahn fließen könnten. Die Bundesregierung könne nicht weiter machen wie bisher, warnt Knie. Sie müsse sich auch von Ausbauprojekten im Straßenbau verabschieden und die Infrastrukturplanung endlich in Einklang mit den eigenen Klimazielen bringen.

Doch das von der eigenen Bundesspitze geforderte Autobahn-Moratorium bringt auch die Grünen selbst in Schwierigkeiten. Beispiel Hessen: Noch schlängelt sich der Verkehr in der betroffenen Region über die B 3 durch die Dörfer. Die leiden an den Blechlawinen und hoffen mit der geplanten Autobahn auf Entlastung, Bürgermeister in der strukturschwachen Region auf mehr Jobs und einen kleinen Aufschwung.

Hessens Landesregierung, an der auch die Grünen beteiligt sind, will von den Plänen keinen Abstand nehmen. Der Grüne Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir setzt das Projekt mit der Union trotz eigener Bedenken um. Er könne sich ja nicht aussuchen, welche gesetzlichen Aufträge er befolgt, entgegnet Al-Wazir der Kritik. Die Klimabewegung entzog den Grünen in Hessen die Zuneigung. Plötzlich waren Plakate mit der Aufschrift "Nie wieder die Grünen" im Dannenröder Forst zu sehen.

Wissenschaftler halten einen Komplettstopp des Fernstraßen-Ausbaus ebenfalls für problematisch. "Auch in zehn oder 20 Jahren wird es noch Autos geben", sagt Gernot Liedtke, Professor und Abteilungsleiter am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums in Berlin. Es bleibe sinnvoll, am Neu- und Ausbau ausgewählter Fernstraßen festzuhalten, um Lücken auf den großen Verkehrsachsen zu schließen. "Zumal sich die Klimabilanz des Verkehrs mit der Elektromobilität und einer zunehmenden Umstellung auf CO₂-arme Stromerzeugung ändern könnte", sagt Liedtke. "Klar ist aber auch, dass der Klimaschutz bei der Verkehrsplanung heute noch nicht die Priorität hat, die er angesichts der gesellschaftlichen Debatte und des fortschreitenden Klimawandels haben sollte."

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Quelle:
SZ vom 13.10.2020
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