Sicherheit im Verkehr:"Wir müssen Wege finden, Geschwindigkeiten zu reduzieren"

Verkehr auf der B6 und der Autobahn A37

"Wenn wir das Durchschnittstempo auf allen Straßen in der EU um einen Kilometer pro Stunde senken, könnten wir jährlich bis zu 2000 Menschen retten", sagt Matthew Baldwin.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Zu schnelles Fahren ist in Deutschland Hauptursache für tödliche Unfälle. Matthew Baldwin, in der EU-Kommission zuständig für Verkehrssicherheit, über Tempolimits, Pop-up-Radwege - und die übermäßige Abhängigkeit vom Auto.

Interview von Thomas Hummel

Um die Ende April verabschiedete Neufassung der Straßenverkehrsordnung herrscht Verwirrung. Nun will Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) das Strafmaß bei Geschwindigkeitsüberschreitungen neu verhandeln. Der Brite Matthew Baldwin, 57, der (trotz des Brexits weiterhin) für die EU-Kommission als Koordinator für Verkehrssicherheit und nachhaltige Mobilität tätig ist, erklärt den europäischen Blick auf die deutsche Verkehrslage.

SZ: Herr Baldwin, in Deutschland sollen Fahrer einen Monat den Führerschein verlieren, wenn sie innerorts 21 Kilometer pro Stunde (km/h) oder außerorts 25 km/h zu schnell unterwegs sind. Ist das, wie Andreas Scheuer sagt, "unverhältnismäßig"?

Matthew Baldwin: Tempolimits sind in der Politik ein sehr emotionales, teils hochbrisantes Thema. Die Handhabung der Geschwindigkeit liegt bei den Mitgliedstaaten, sie entscheiden über Limits, Strafen und die Art und Weise, wie sie die Regeln durchsetzen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist überhöhte Geschwindigkeit die Hauptursache für tödliche Unfälle.

Eine Studie des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETSC) stellt fest: Wenn wir das Durchschnittstempo auf allen Straßen in der EU um 1 km/h senken, könnten wir jährlich bis zu 2000 Menschen retten. Geschwindigkeit bewirkt zwei Dinge: Sie macht einen Unfall wahrscheinlicher und sie macht ihn schlimmer. Laut ETSC spielt zu hohes Tempo in einem Drittel der tödlichen Kollisionen eine Schlüsselrolle. Wir müssen Wege finden, Geschwindigkeiten zu reduzieren.

Ist es ein speziell deutsches Phänomen, emotional auf Tempolimits zu reagieren?

Das kann überall passieren. In Frankreich gab es einen großen Streit, als die Regierung das Limit auf Landstraßen von 90 auf 80 km/h senken wollte. Es wurde dennoch vor 20 Monaten umgesetzt und führte zu sehr positiven Ergebnissen. Die Behörden gaben kürzlich bekannt, dass dies nach ihren Berechnungen seither etwa 350 Leben gerettet hat. Und dass der Zeitverlust für die Fahrer nur eine Sekunde pro Kilometer beträgt. Aber es stimmt, es gab viel Widerstand gegen die Maßnahme.

Wie streng sind die deutschen Vorschriften im europäischen Vergleich?

Nach meinem Verständnis neigt Deutschland dazu, seine Tempolimits effektiv zu überwachen. Das begrüßen wir. In einigen Ländern bekommt man keinen Strafzettel, wenn man bis zu 10 km/h oder in manchen Fällen sogar bis zu 20 km/h zu schnell fährt. Und es herrscht die Auffassung, dass die Polizei ohnehin nicht strikt auf die Regeln achtet. Das zeigt sich etwa innerhalb von Ortschaften, wo laut ETSC europaweit zwischen 35 und 75 Prozent der Fahrzeuge schneller fährt als erlaubt.

Wie ist der europäische Blick auf die deutschen Autobahnen?

Es ist nicht Aufgabe der EU-Kommission, der deutschen Regierung zu sagen, was sie zu tun hat. Aber ich begrüße es, dass die Debatte vorankommt. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat hat im Januar zum ersten Mal ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen empfohlen.

Denken eigentlich andere Länder über die Aufhebung des allgemeinen Tempolimits nach?

Ich glaube nicht.

Deutschland sieht sich selbst als eine Nation der Autobauer. Wie steht es da um Aspekte der Sicherheit?

Wir haben einen ausgezeichneten Kontakt ins Ministerium nach Berlin. Deutschland ist führend bei der Verkehrssicherheit, von dort kommen einige gute Ideen, wie der Abbiege-Assistent für Lkws. Deutschland hat hier seine Pläne in der EU vorgestellt, einige andere Staaten waren begeistert. Wir werden diese Systeme ab 2022 verbindlich für neue Lkws vorschreiben und versuchen, sie auch in ältere Fahrzeuge zu integrieren. Ein anderes Beispiel sind die hervorragenden Unfallanalysen. Man untersucht jeden tödlichen Crash, versucht herauszufinden, wie es dazu kam und Schlüsse zu ziehen. Hier kann Europa von Deutschland lernen.

Interview am Morgen

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Deutschland als relativ sicherer Ort für Verkehrsteilnehmer?

Im Allgemeinen hat das Land eine gute Bilanz. Wenn man sich die Zahl der Toten ansieht, dann sterben in der EU pro eine Million Einwohner jährlich 51 Menschen im Verkehr, in Deutschland sind es 37. Spanien und Luxemburg schneiden etwas besser ab, Schweden hat mit 22 die beste Bilanz. Doch auch wenn in Deutschland die Zahlen seit 2010 um 16 Prozent zurückgegangen sind, finde ich, man könnte noch besser werden. Die Qualität der Autos ist in der Regel hoch, die Straßen sind gut, die Menschen neigen dazu, die Regeln zu befolgen. Wenn Deutschland auf das Niveau Schwedens kommt, würde das etwa 1200 Tote weniger bedeuten.

Was unternimmt die EU, um das Raser-Problem zu lösen?

Sie hat eine Reihe von juristischen Befugnissen, die relevant sind. Sie regelt die technische Sicherheit von Fahrzeugen, weitgehend aus Binnenmarktgründen - wenn Sie ein Auto aus französischer Produktion kaufen, wollen Sie sichergehen, dass es nach den gleichen Standards gebaut ist. Die EU hat sich 2019 auf eine Neufassung der Sicherheitsregeln geeinigt. Einer der spannendsten Aspekte ist der Intelligente Geschwindigkeitsassistent ISA, der den Fahrern hilft, die Tempolimits einzuhalten. Das hat ein enormes Potenzial, Leben zu retten. Es wird in allen Neuwagenmodellen von 2022 an verpflichtend integriert und muss bis 2024 in alle Neuwagen, also auch in ältere Modelle, eingebaut werden.

Matthew Baldwin

Matthew Baldwin, 57, ist seit zwei Jahren für die EU-Kommission als Koordinator für Verkehrssicherheit und nachhaltige Mobilität zuständig.

(Foto: EU)

Die Corona-Pandemie führte zu Beginn fast zum Stillstand im Verkehr. So sicher war es vermutlich selten auf den Straßen.

Es gab weniger Todesopfer, aber die Zahl sank nicht so stark wie das Verkehrsaufkommen. Viele EU-Staaten berichteten von einem Anstieg der Tempodelikte, Autofahrer nutzten leere Straßen zum Rasen und hofften, dass die Behörden wegschauen. In Umfragen gaben viele Menschen an, wegen des Virus öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Ich fürchte, dass diese sich bei schlechterem Wetter dem Auto zuwenden. Doch wenn die Autonutzung zunimmt, bedeutet das mehr Staus, schlechtere Luft, mehr CO₂-Emissionen und ein erhöhtes Unfallrisiko. Befinden sich mehr Autos, mehr Radfahrer und mehr Fußgänger auf den Straßen, kommen auch mehr Sicherheitsprobleme auf uns zu.

Was raten Sie?

Wir haben zusammen mit den Mitgliedsstaaten im Juni einige Analysen veröffentlicht. Wir müssen die Menschen durch Hygienemaßnahmen oder flexible Arbeits- und Schulzeiten dazu ermutigen, wieder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Zudem begrüßen wir eine bessere Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer wie etwa die Pop-up-Radwege in Städten. Sie ermutigen die Menschen zum Radfahren. Ich möchte loben, dass sich die deutschen Behörden sehr für die Radfahrer einsetzen. In der neuen Straßenverkehrsordnung dürfen sie nurmehr mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern überholt werden, zudem sollen acht Meter von Kreuzungen entfernt keine Parkplätze mehr erlaubt sein.

Sie werben generell für eine Verringerung der Zahl der Autos?

Meiner Meinung nach müssen wir versuchen, unsere übermäßige Abhängigkeit von Autos in Städten zu verringern. Das ist offensichtlich. 70 Prozent der Menschen, die im Stadtgebiet bei Unfällen sterben, sind Radfahrer, Motorradfahrer und Fußgänger. An diesem Punkt kommen wir auf Tempolimits zurück. Wenn jemand von einem Auto mit 30 km/h angefahren wird, hat er oder sie eine 90-prozentige Überlebenschance. Bei einem Aufprall mit 60 km/h - und das ist die De-facto-Geschwindigkeit in vielen Städten - sinkt sie auf zehn Prozent. Helsinki hat die Zahl der Verkehrstoten auf null reduziert, eine der Maßnahmen war ein allgemeines Tempolimit von 30 km/h. Es ist also machbar.

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