Ja, es geht voran mit der europäischen Einigung. Der Kontinent wächst zusammen, es gibt Grund zum Optimismus - man muss sich nur die richtigen Vorbilder nehmen. Zum Beispiel die Tunnelarbeiter zwischen den Tiroler Orten mit den schönen Namen Tulfes und Pfons.
Stolz posierten sie jetzt in ihren gelben Westen für ein Erinnerungsfoto, nachdem sie einen wesentlichen Teil der Bahnstrecke frei gesprengt hatten, die den Süden und den Norden Europas einander näher bringen wird. Der Brenner-Basistunnel nimmt Gestalt an. 64 Kilometer lang, die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt, ein Symbol für den Glauben an eine gemeinsame europäische Zukunft und eine umwelt- und klimaverträgliche Mobilität in Europa. Im Jahr 2027 soll die Strecke in Betrieb gehen, die Österreicher und die Italiener liegen im Zeitplan.
Welchen Beitrag die Deutschen zu dem epochalen Werk leisten? So gut wie nichts. Sie werden, wenn sie weitermachen wie bisher, zum Bremsklotz.
Und ganz Europa droht dabei Schaden zu nehmen. Die Deutschen führen sich gern als europäische Musterschüler auf, doch ihr Verhalten bei dem Tunnelprojekt zeigt, warum sie andernorts in Europa häufig für heuchlerisch gehalten werden - und warum sie sich über Widerspruch nicht wundern sollten, wenn sie mal wieder einsam voranmarschieren mit ihrer moralisch vermeintlich überlegenen Haltung in der Flüchtlingspolitik, ihrer Energiewende, ihrer Klimapolitik. Am Brenner geht es auch um gelebte europäische Solidarität.
Über den Brenner führt eine über alle Maßen strapazierte Lebensader der europäischen Wirtschaft. 70 Prozent der Güter werden auf der Straße transportiert. Die Menschen in den Alpen leiden unter Staus, Lärm, Abgasen, leiden vor allem unter den Lkw-Karawanen. Deshalb der Plan, den Alpenhauptkamm für die Bahn zu untertunneln. Deutsche Verkehrspolitiker, federführend die Bundesminister von der CSU, hielten die Italiener und Österreicher wohl für, der Ausdruck sei gestattet, zu blöd, ein derartiges Projekt fertigzustellen, selbst als die Verträge schon unterzeichnet waren. Deutschland verpflichtete sich, den "Nordzulauf" in Richtung Innsbruck zu bauen, man plante ein wenig herum an möglichen Trassen und versuchte, Bürgerprotesten aus dem Weg zu gehen. Verkehr auf die Schiene verlagern, das klingt doch gut, solange man nichts dafür tun muss. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Das war ein fataler Fehler. Sogar die neue, rechtspopulistische Regierung in Italien hat der Versuchung widerstanden, das Tunnelprojekt aus Kostengründen zu kippen. Das österreichische Parlament schickt den Verkehrsminister nach Deutschland, um Druck zu machen. Denn hier sind die Planungen immer noch im Anfangsstadium, frühestens 2037, also zehn Jahre nach Inbetriebnahme des Tunnels, wird es auf deutscher Seite zusätzliche Gleise geben. Und was nutzt der schönste Brennertunnel, wenn die Züge sich in Deutschland stauen? Es ist dasselbe Trauerspiel wie beim Zulauf zum Gotthard-Basistunnel: zehn Jahre Verspätung auf deutscher Seite, mindestens. Spätestens Mitte des Jahrhunderts werden im Inntal die bestehenden Gleise auf deutscher Seite nicht mehr reichen, selbst wenn man sie technisch aufrüstet, sagen die Bedarfsprognosen, die Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vor Kurzem im Inntal vorgestellt hat, begleitet von Protesten. So wie im Rheintal, auf dem Weg zum Gotthardtunnel, so formiert sich nun auch hier massiver Widerstand der Bürger gegen einen Ausbau.
Das Misstrauen gegenüber den Ansagen aus Berlin ist verständlich. Durch das malerische Tal führen neben der Autobahn bereits zwei Gleise. Zwei weitere Gleise, verbunden mit einer über viele Jahre währenden Großbaustelle, das wäre ein hoher Preis, den die Betroffenen bezahlen müssten. Ob er sich wirklich lohnt? Selbst die Grünen sind in der Frage gespalten. Wenn die Menschen im Inntal hören, sie müssten für eine europäische Bahnverbindung zwischen Skandinavien und dem Mittelmeer Opfer bringen, so erinnert sie das fatal an die Magistrale Paris-Bratislava, mit der man einst den Tiefbahnhof Stuttgart 21 rechtfertigte - ein städtebauliches Prestigeprojekt von verkehrstechnisch fragwürdigem Wert, das an die zehn Milliarden Euro kosten wird, so viel wie der gesamte Brennertunnel.
Es liegt nun am Bundesminister Scheuer und am bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, im Inntal das Misstrauen zu beseitigen. Die betroffenen Bürger werden sie von der Sinnhaftigkeit des Projekts nur überzeugen, wenn sich die deutsche Verkehrspolitik radikal wandelt. Wenn sie dem Schienenverkehr Vorrang gibt, wenn sie die Deutsche Bahn mit einem massiven Investitionsprogramm aufrüstet, wenn sie die Engstellen im deutschen Netz beseitigt, wenn sie viel Geld in Lärmschutz investiert. Europa muss auf der Schiene wachsen. Das geht nur, wenn die Deutschen dafür freie Bahn schaffen.