Verhandlungsmarathon in Minsk:"Wer zuerst Schwäche zeigt, hat verloren"

Verhandlungsmarathon in Minsk: Der frühere deutsche Spitzendiplomat Jürgen Chrobog

Der frühere deutsche Spitzendiplomat Jürgen Chrobog

(Foto: imago stock&people)

Als Diplomat hat Jürgen Chrobog unzählige Verhandlungs-Nachtschichten erlebt. Im Interview erklärt er, warum Politiker bei wichtigen Gesprächen kaum müde werden - und warum man es verstecken sollte, wenn es doch passiert.

Von Paul Munzinger

Dreißig Jahre war Jürgen Chrobog, 74, einer der wichtigsten deutschen Diplomaten. Seit den Siebzigerjahren arbeitete er im Auswärtigen Amt, die meiste Zeit unter dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Von 1995 bis 2001 vertrat er die Bundesrepublik Deutschland als Botschafter in Washington. Als Diplomat erlebte Chrobog unzählige Verhandlungsmarathons, darunter auch die historischen Beratungen über den Zwei-plus-Vier-Vertrag und über den Vertrag von Maastricht.

SZ.de: Herr Chrobog, Angela Merkel, François Hollande, Petro Poroschenko und Wladimir Putin haben in Minsk die ganze Nacht hindurch verhandelt, insgesamt 17 Stunden. Sie haben selbst viele Verhandlungsmarathons erlebt. Was glauben Sie: Gibt am Ende derjenige nach, der am dringendsten ins Bett muss?

Jürgen Chrobog: Das könnte man denken. Aber wenn es um Dinge geht wie gestern Abend, dann ist das mit Sicherheit nicht der Fall. Ich habe mit Genscher viele Nachtsitzungen erlebt, in Brüssel und auf der ganzen Welt, da ging es um wirklich schwierige politische Fragen. Da knickt keiner ein, nur weil er müde wird. Jedenfalls keiner von denen, auf die es ankommt. Als Presseprecher war ich jahrelang bei der Deutschen Vertretung der Europäischen Gemeinschaft tätig und habe alle Nachtsitzungen der Außenminister und vor allem der Landwirtschaftsminister mitgemacht. Das gehörte zum Ritual. Da musste man 24 Stunden durchverhandelt haben, sonst konnte man nicht nach Hause gehen und sagen: "Ich habe gekämpft".

Ist es nicht fahrlässig, wenn die wirklich wichtigen Entscheidungen von Menschen getroffen werden, die vollkommen übernächtigt sind?

Der hohe Adrenalinausstoß führt dazu, dass man sehr konzentriert verhandelt. Aus Nachlässigkeit oder Übermüdung passieren da kaum Fehler.

Was war die längste Verhandlung, die Sie miterlebt haben?

Ich habe 1991 den Maastricht-Vertrag mitverhandelt, als politischer Direktor. Das ging bis morgens um vier und ich hatte eine schwere Grippe. Da kam es auf jedes Wort an, weil es danach den Regierungschefs vorgelegt werden musste. Das war sehr hart. Aber selbst unter schwierigen Umständen führt das Bewusstsein für die Verantwortung dazu, dass man konzentriert verhandelt, keine leichten Fehler macht - und vor allem nicht leichtfertig nachgibt. Das war jetzt in Minsk sicherlich genauso.

Sind Sie mal bei einer Verhandlungsrunde eingeschlafen?

Ich bin durchaus mal leicht eingenickt, aber da hatte ich zum Glück meine Mitarbeiter neben mir. Die haben mich angestoßen, wenn es spannender wurde. Dann war ich wieder voll da, ich habe ja nicht fest geschlafen, nur ein bisschen gedöst. Das ist auch in Ordnung, wenn Sachen besprochen werden, die in diesem Moment für einen selbst nicht wichtig sind.

Wenn Sie müde wurden in so einer Runde, hätten Sie nicht einfach sagen können: Ich möchte jetzt schlafen, vertagen wir das Ganze auf morgen?

Nein. Wer zuerst Schwäche zeigt, hat verloren, der ist kein ernstzunehmender Verhandlungspartner mehr. Aber natürlich gibt es auch mal eine Übereinstimmung. Dann heißt es: Heute kommen wir nicht mehr weiter, lasst es uns auf morgen vertagen. Aber sehen Sie sich den Terminplan von Frau Merkel an: Die konnte gar nicht vertagen, die musste direkt weiter zum Europäischen Rat in Brüssel. Das ist ein mörderisches Geschäft. Die Strapazen, die sie in den letzten Wochen ausgehalten hat, das ist übermenschlich. Aber sie hält es mit einer ungeheuren Selbstdisziplin durch.

Genau wie Putin oder Barack Obama gibt ja auch Angela Merkel damit an, dass sie wenig Schlaf brauche. Sie verfüge über "kamelartige Fähigkeiten" und könne Schlaf speichern.

Das ist natürlich eine gewisse Selbstdarstellung.

Hätte jemand, der viel Schlaf braucht, auf dem diplomatischen Parkett überhaupt eine Chance? Am frühen Morgen twitterte ein Mitarbeiter der Präsidialverwaltung Poroschenkos, die Verhandlungen dauerten noch fünf oder sechs Stunden. Er fügte hinzu: "Schlafen ist jetzt für Schwächlinge."

Das ist Machogehabe, totaler Quatsch. Aber richtig ist natürlich schon: Je präsenter man ist, geistig und physisch, desto konzentrierter kann man verhandeln, desto genauer achtet man auf die Nuancen. Aber jetzt in Minsk gab es ja ohnehin keine Luft. Allen war klar: Wir müssen ein Ergebnis erzielen oder es scheitert. Dann sähe die Welt heute wahrscheinlich anders aus, auch wenn man über das Ergebnis streiten kann.

Kann die Müdigkeit der Verhandlungspartner also auch friedensstiftend wirken?

Die Deadline, die man sich setzt, sorgt dafür, dass es zu einem Ergebnis kommen muss. Aber ich glaube nicht, dass Putin friedlicher gestimmt war, weil es so lange gedauert hat.

Was wird bei solchen Marathons gegessen und getrunken?

Das Kulinarische spielt überhaupt keine Rolle. Bei den großen Landwirtschaftsverhandlungen in Brüssel gab es morgens um drei manchmal eine Unterbrechung, da gab es dann Sandwiches. Vielleicht hat der weißrussische Präsident in Minsk auch Wodka angeboten. Aber ich gehe nicht davon aus, dass irgendjemand den getrunken hat. Dann baut man schneller ab. Ich war immer völlig abstinent.

Man hört auch immer wieder Gerüchte von kleinen Pillen, die die Verhandlungsführer durch die Nachtschichten bringen.

Ich habe nie welche genommen. Diese Aufputschmittel führen ja hinterher zu einem Absturz. Sehen Sie sich das Programm von Angela Merkel mal an. Das würde nicht gut gehen.

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