Süddeutsche Zeitung

Verhältnis zu Deutschland:Wie Polen die Wiedervereinigung lieben lernte

In Warschau war Wladyslaw Bartoszewski im Widerstand, die deutsche Sprache lernte er im KZ. Wo erlebt man mit dieser Biografie die Wiedervereinigung? Natürlich in Deutschland. Erinnerungen an die unvermutete Annäherung zweier Länder.

Wladyslaw Bartoszewski

Um es zugespitzt zu sagen: Die Umbruchszeit in Deutschland habe ich fast wie ein Deutscher erlebt. An meine Erfahrungen und Eindrücke erinnere ich mich aus der westdeutschen, insbesondere bayerischen Perspektive. Ich war damals an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Den Mauerfall in Berlin erlebte ich also zusammen mit den Deutschen dank der Übertragung des Westdeutschen Rundfunks.

Auch sonst verfügte ich in diesen turbulenten Tagen über keine direkten Informationsquellen oder vertrauten schnellen Kontakte mit meiner Heimatstadt Warschau und mit meinem politischen Umfeld in Polen. Viel stärker greifbar und unmittelbar war für mich die Stimmung in der Bundesrepublik. Dazu kommt auch die Tatsache, dass ich regelmäßige Reisen von München in die anderen deutschen Städte unternahm, darunter nach West-Berlin, wo ich zahlreichen frei angereisten Ostberliner begegnete.

Aber vielleicht ist das auch geradezu symbolisch für das Verhältnis der meisten Polen zu diesem neuen, vereinigten Land. Wir Polen hätten ja am ehesten Grund gehabt, uns vor einem großen Deutschland zu fürchten - würde erneut jener übermächtige Nachbar im Westen entstehen, der einst mit den anderen übermächtigen Nachbarn Polen aufteilte, dessen Wehrmacht am 1. September 1939 das Land überfiel, dessen Besatzung Millionen Menschen das Leben kostete?

Es geschah aber das Gegenteil. Der deutsche Einigungsprozess wurde in Polen mit großem Wohlwollen und wacher Bereitschaft zur Mitwirkung an der Maueröffnung beobachtet. Die deutsche Geschichte war in diesen Wochen und Monaten auch unsere Geschichte, die Geschichte von Menschen, die Freiheit wollten und das Ende der Diktatur.

Gespräche gabe es schon vor dem Mauerfall

Die ab Mitte September 1989 amtierende Regierung unter der Leitung des katholischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki hatte bereits erste inoffizielle Kontakte geknüpft. Noch bevor die alten Kader in der polnischen Botschaft von den neuen Vertretern der souveränen demokratischen Republik Polen abgelöst werden konnten, reiste der persönliche Gesandte von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki in die Bundesrepublik, der Journalist Mieczyslaw Pszon. Sein deutscher Gesprächspartner war Horst Teltschik, der nahe Vertraute von Bundeskanzler Helmut Kohl.

Der Mauerfall kam überraschend für beide Seiten, für die polnische Regierung in Warschau wie für die Bundesregierung in Bonn. Aber die Grundlage für die weiteren Beziehungen gab es zu diesem Zeitpunkt schon, dank der Gesprächsrunden zwischen dem polnischen Sonderbeauftragten und seinem deutschen Gegenüber.

Und so war es auch schnell möglich, den ersten offiziellen Besuch von Bundeskanzler Kohl in Polen zu organisieren. Der Mauerfall überraschte den deutschen Bundeskanzler in Warschau. Dies verursachte zwar erhebliche Turbulenzen, kann aber zugleich als Beweis des weitsichtigen Denkens von Helmut Kohl in Sachen deutsch-polnischer Angelegenheiten betrachtet werden.

Von größter Bedeutung für die polnische öffentliche Meinung war jedoch nicht nur, dass Kohl während des Umbruchs in Warschau war, sondern vielmehr, dass er sofort nach dem unterbrochenen ersten Besuch dorthin zurückkehrte. Dies zeigte, dass er auch angesichts eines so bedeutenden Ereignisses wie des Falls der Berliner Mauer den Stellenwert der Kontakte mit Polen keineswegs aus den Augen verloren hatte.

Kohl berief sich im Warschauer Marriot-Hotel am 13. November 1989 ausdrücklich auf die Zukunftsvision der Gründerväter des vereinigten Europas: "Lasst uns gemeinsam auf dieses große Europa zugehen - unser Europa, in dem wir alle Platz finden. Ein Europa, in dem die Vision Konrad Adenauers Wirklichkeit wird. Gegen Ende seines Lebens sagte er, dass die Freiheit in diesem Europa größere Bedeutung haben werde als Grenzen. Gehen wir also gemeinsam diesen Weg!"

Die damaligen Gespräche in Warschau resultierten in einer Liste der aktuellen Probleme, die zahlreiche Punkte umfasste - soweit ich mich erinnern kann, waren es 78. Sie spiegeln die Sichtweise der neuen polnischen Republik, der Polen und ihrer politischen Eliten auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Es ging um die Zukunft der bisherigen beiden deutschen Staaten, vereint in der einen oder anderen Form, abhängig von der Zustimmung der Großmächte und von dem souveränen willen des deutschen Volkes.

Die Polen waren jedenfalls im eigenen, gut verstandenen Interesse bereit, die Vereinigung zu unterstützen, um einen verlässlichen und stabilen Staat als Nachbarn zu haben, der zur Europäischen Union und zur Nato gehört. Die wichtigste politische und psychologische Bedingung war jedoch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als endgültiger Grenze Polens und der vereinten Bundesrepublik.

Bekanntlich erstreckte sich dieser Prozess über mehrere Etappen und fand seinen Abschluss in dem Vertrag von 14. November 1990, also schon nach der Vereinigung Deutschlands. Diese Deklaration war der Umbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen und ebnete wiederum den Weg zur Entstehung ganz neuer Beziehungen, die im Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit geregelt werden.

Der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands verlief parallel zum Wandel in Polen. Er war für Warschau von fundamentaler Bedeutung: Das demokratische Gesamtdeutschland sollte Polen den Weg in die europäische Integration weisen, es in ein Bündnis der politischen Sicherheit führen. Außenminister Krzysztof Skubiszewski wies am 22. Februar 1990 auf dem deutsch-polnischen Forum in Posen angesichts der sich abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands auf den Grundzusammenhang hin: "Wir müssen eine deutsch-polnische Interessengemeinschaft aufbauen. Diese wird ein wichtiger Bestandteil der internationalen Ordnung im sich vereinigenden Europa sein. Ohne die deutsch-polnische Zusammenarbeit wird es dieses Europa nicht geben."

Im Rückblick kann ich nur hinzufügen, dass es auf beiden Seiten nicht an weitsichtigen Menschen guten Willens fehlte. Mit solchen Personen - sowohl in Polen als auch in Deutschland - hatte ich selbst zu tun, seit ich mich für die deutsch-polnischen Beziehungen interessiere, seit ich in den Sechzigerjahren begann, mich aktiv an der Gestaltung dieser Beziehungen zu beteiligen. Deshalb schienen mir die Ereignisse der Umbruchsjahre als logische Folge, obwohl auch ich sie natürlich so nicht erwartet habe. Und auch nicht erwartet habe, mit welch breiter und weitgehender Akzeptanz die Mehrheit der Polen sie begrüßt hat, wie konfliktlos die neue Nachbarschaft entlang der Oder-Neiße-Grenze bislang verlaufen ist - und verlaufen wird.

Wladyslaw Bartoszewski, 90, kämpfte im Warschauer Widerstand und überlebte das Konzentrationslager Auschwitz. 1995 und 2000-2001 war er polnischer Außenminister.

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SZ vom 29.09.2012/josc
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