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Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten:Kampf um das Ende der sexuellen Kriegsführung

Bei Vergewaltigungen im Krieg geht es angeblich vor allem um unkontrollierte Triebe und Sex. Auf einer Konferenz in London haben der britische und der amerikanische Außenminister gemeinsam mit UNHCR-Botschafterin Angelina Jolie klargemacht, was die wahren Hintergründe sind.

Von Markus C. Schulte von Drach

Meist erst nach dem Ende der Kämpfe kommen jene Gewalttaten ans Licht, die über das Töten von Soldaten und Zivilisten im Rahmen von Kampfhandlungen hinausgehen: Folter, Misshandlungen, Verstümmelungen wehrloser Menschen, Vergewaltigungen. Taten, die während der Konflikte häufig noch als Kriegspropaganda abgetan werden, bekommen Gesichter - sofern die Opfer noch leben und nicht aus Scham ihr Leid verschweigen.

Doch das tun sie häufig. Wohl auch deshalb wurden Vergewaltigungen über Jahrhunderte eher anekdotisch als Kriegsgräuel beschrieben, die eben zur Hölle des Krieges gehören. Dass Vergewaltigungen im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen allerdings sehr häufig, sogar systematisch verübt werden, diese Erkenntnis - oder besser: dieses Eingeständnis ist noch nicht alt.

Für die internationale Politik waren derartige Verbrechen bis vor wenigen Jahren kein Thema. Größere Studien dazu gibt es erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Interesse der breiten Öffentlichkeit wurde erst von Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen geweckt, die Massenvergewaltigungen von Frauen im Balkankonflikt seit Anfang der 90er Jahre anprangerten. In einigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates wurde seitdem Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, was über die Festlegung in der Genfer Konventionen von 1949 hinausgeht.

Noch immer trauen sich viele Opfer nicht darüber zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Fast alle diese Verbrechen bleiben ungesühnt. Und das Bewusstsein dafür ist in der Öffentlichkeit noch immer nicht groß genug. Das zu ändern war das Ziel der gerade in London abgeschlossenen Konferenz "End Sexual Violence in Conflict". Es war die größte, die es zu diesem Thema bislang gab. An vier Tagen hatten sich Vertreter aus mehr als hundert Ländern getroffen, Opfer und Zeugen, Politiker und Menschenrechtsaktivisten, Militärexperten und Juristen.

"Kultur der Straflosigkeit" beenden

Die Veranstaltung war der Höhepunkt einer zweijährigen Kampagne des britischen Außenministers William Hague und der US-Schauspielerin Angelina Jolie in ihrer Funktion als Sonderbotschafterin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Gemeinsam hatten sie Vergewaltigungsopfer zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina und in der Demokratischen Republik Kongo besucht, um die Welt auf die furchtbaren Ereignisse aufmerksam zu machen.

Schließlich sind die Zahlen zu diesen Verbrechen, die etwa die UN veröffentlicht haben, schier unglaublich. So werden etwa in der Demokratischen Republik Kongo täglich zwischen 30 und 40 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Zwischen 250 000 und 500 000 Frauen erlitten dieses Schicksal 1994 während des Völkermords in Ruanda. Und in Bosnien-Herzegowina wurden in den 90er Jahren 20 000 bis 50 000 überwiegend muslimische Frauen vor allem von serbischen Soldaten systematisch vergewaltigt. Trotz der Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag wurden lediglich etwas mehr als 60 Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Wichtigstes Ziel der Veranstalter, darunter die britische Regierung, ist es, die noch immer herrschende "Kultur der Straflosigkeit" zu beenden. "Ich hoffe, dass in einigen Jahren, wenn ein Krieg ausbricht, jene, die die Vergewaltigung eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes in Erwägung ziehen, sich sehr bewusst sind, welche Konsequenzen ihre Handlungen haben werden", erklärte Jolie unlängst der britischen Zeitung Guardian während eines Bosnienbesuchs. Wenn die Opfer die Möglichkeit hätten, Vergewaltigungen zu melden, und wenn diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch massenhaft bestraft würden, könne sich etwas ändern.

Zustimmung erhielt Jolie auf der Abschlussveranstaltung in London von US-Außenminister John Kerry. Er zeigte sich überzeugt, dass sich "die sexuelle Kriegsführung beenden lässt, neue Normen etabliert und die Täter zur Verantwortung gezogen werden können". Dazu sei eine Null-Toleranz-Politik gegenüber sexueller Gewalt notwendig.

Das Thema ist aus mehreren Gründen schwierig. So leiden die Opfer nicht nur unter teils schweren körperlichen Verletzungen, sondern auch unter schweren psychischen Traumata. Sie erfahren in ihrem Umfeld jedoch häufig keine Unterstützung, sondern Ablehnung. Deshalb wollen oder können viele nicht über die Verbrechen sprechen. Auch die Ursachen für diese Form der Gewalt sind nicht so einfach auszumachen, wie es vielleicht scheint. Es handelt sich meist nicht um vereinzelte Verbrechen, ausgeführt von seelisch abnormen Tätern.

Wissenschaftler betrachten Vergewaltigungen derzeit noch als eine mehr oder weniger zu erwartende Begleiterscheinung bewaffneter Auseinandersetzungen. Das soll nicht die zynische Empfehlung rechtfertigen, sich damit abzufinden. Aber ein Blick auf die Geschichte belegt: "Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg ist so alt wie der Krieg selbst." Das schreibt etwa Gabriela Mischkowski von Medica Mondiale. Der Frauenhilfsorganisation zufolge sind sexualisierte Gewalt und Folter an Frauen und Mädchen Bestandteil jeden Krieges.

Vergewaltigungen finden und fanden immer schon in Kriegen zwischen Nationen, in Bürgerkriegen und bei Aufständen, bei Kämpfen zwischen Gruppen unterschiedlicher Kultur, Religion, Ethnie statt. Die Darstellungen gehen zurück bis in die Antike, und Berichte von den Verbrechen kommen heute noch aus allen Teilen der Welt.

Vergewaltigung hat weder mit der Natur noch mit der Sexualität viel zu tun

Auch die Motivation der Täter ist nicht so eindeutig, wie es der Begriff sexuelle Gewalt zu sagen scheint. "Der beliebteste und wirkungsvollste Mythos", so stellte die Militärsoziologin Ruth Seifert von der Fachhochschule Regensburg noch 1993 fest, "ist wohl der, Vergewaltigung hätte etwas mit einem unbezwinglichen männlichen Trieb zu tun, der sich, sofern nicht kulturell kontrolliert, zwar bedauerlicher-, aber andererseits unvermeidlicherweise austoben müsse".

Tatsächlich aber gebe es gute Gründe anzunehmen, "dass Vergewaltigungen weder mit der Natur noch mit der Sexualität recht viel zu tun haben. Sie sind vielmehr ein extremer Gewaltakt, der sich allerdings sexueller Mittel bedient." Manche Experten sprechen deshalb lieber von sexualisierter Gewalt.

Verschiedene Faktoren können für die Motivation der Täter insgesamt eine Rolle spielen: Es geht vor allem um die Erniedrigung eines zum Gegner zählenden, häufig depersonalisierten, ja dehumanisierten "Anderen", der es nicht anders verdient hat. Schließlich bedeutet eine Vergewaltigung "den schwersten denkbaren Angriff auf das intimste Selbst und die Würde des Menschen", wie es Seifert ausdrückt. Dazu kommt das Gefühl von Macht und Überlegenheit gegenüber einem völlig ausgelieferten Opfer. Die Bedeutung dieser Motive tritt besonders deutlich hervor, wenn zum Beispiel heterosexuelle Männer andere Männer vergewaltigen, oder wenn Gefangene gezwungen werden, sich gegenseitig zu schänden.

Die Täter zeigen aufgrund der zuvor verübten und erfahrenen Gewalt und wegen der Indoktrination innerhalb der eigenen Gruppe kein Mitgefühl gegenüber ihren Opfern. Und etwa bei Gruppenvergewaltigungen geht es darüber hinaus offenbar auch darum, sich gegenseitig Männlichkeit zu beweisen, wie die US-Historikerin Susan Brownmiller schreibt.

Da es sich bei der Vergewaltigung aber letztlich um einen Akt handelt, der auch zur sexuellen Befriedigung führt, hat sie natürlich eine wichtige sexuelle Komponente. Wo ein Bedürfnis nach Sex existiert, wenn - wie im Krieg - die üblichen Normen und Werte nicht mehr gelten, neigen manche Kämpfer offenbar dazu, sich an wehrlosen Opfern zu befriedigen. So erklärte der Oberbefehlshaber des deutschen Heeres, General Walther von Brauchitsch, 1940: "Das Leben unter völlig veränderten Bedingungen, starke seelische Eindrücke und zuweilen auch übermäßiger Alkoholgenuss führen zu gelegentlichem Wegfall von sonst vorhandenen Hemmungen bei bisher bewährten und einwandfreien Soldaten."

Und "der Vergewaltiger selbst kommt [...] nicht ohne sexuelle Erregung aus, auch wenn die Gewaltausübung und nicht der sexuelle Genuss sein Leitmotiv sein mag", hat etwa Gaby Zipfel vom Hamburger Institut für Sozialforschung festgestellt. Ihr zufolge wirkt auch die Ausübung von Gewalt auf die Kämpfer "faktisch sexuell stimulierend". Und die Angst des Opfers steigere die Erregung des Täters zusätzlich.

Ein rein sexueller Akt scheint es allerdings fast nie zu sein. Denn, wie Susan Brownmiller feststellte, befriedigen sich viele Kämpfer lieber mit Gewalt als gewaltlos etwa in Bordellen - selbst wenn diese zur Verfügung stehen.

Doch neben den individuellen Motiven der Täter, die die Schrecken des Krieges aus ihnen selbst heraus vergrößern, gibt es noch einen weiteren Grund für Vergewaltigungen in bewaffneten Konflikten. Sie dienen als Kriegsmittel, die von den militärischen Führern bewusst genutzt werden. So waren sie in der Vergangenheit gewissermaßen ein Teil der Belohnung, die auf siegreiche Kämpfer in eroberten Gebieten wartete, wie etwa die US-Historikerin Susan Brownmiller feststellte.

Angeordnete Massenvergewaltigungen

So vergewaltigten Wehrmachtsoldaten massenhaft Frauen in den eroberten Gebieten in Osteuropa. Nach 1945 vergingen sich sowjetische Soldaten in großer Zahl an deutschen Frauen. Auch französische und amerikanische Soldaten vergewaltigten in Deutschland immer wieder Frauen. Und japanische Truppen vergewaltigten 1937 mehrere Zehntausend chinesische Frauen und Mädchen in Nanking (Nanjing). Zwar wurden diese Vergehen auch innerhalb des Militärs offiziell häufig als Verstoß gegen die Disziplin betrachtet, aber kaum geahndet.

Dazu kommen die von Vorgesetzten angeordneten Massenvergewaltigungen und Folterungen gefangener Frauen. Bekannt wurden solche Verbrechen etwa aus serbischen Konzentrationslagern in Bosnien-Herzegowina in den 90er Jahren. Ziel war es, die bosnisch-muslimischen Gegner als Gruppe zu erniedrigen, ihre Kampfmoral zu untergraben und sie zur Flucht zu drängen. Mit dem gleichen Ziel wurden dort, wie auch während vieler anderer Kriege und Konflikte, Männer und Frauen dadurch erniedrigt, dass sie vor den Augen der Soldaten und Mitgefangenen miteinander schlafen mussten, sexuell misshandelt und verstümmelt wurden.

Im Osten des Kongo, so berichtete kürzlich das dortige UN-Menschenrechtsbüro, werden Massenvergewaltigungen als Waffe eingesetzt, um die Zivilbevölkerung für eine mutmaßliche Zusammenarbeit mit dem Gegner zu bestrafen und die Dorfgemeinschaften zu zerstören.

Auch in Syrien werden dem britischen Außenminister Hague zufolge Vergewaltigungen gegenwärtig "nur dazu verübt, politische Gegner zu terrorisieren".

Welche Faktoren jeweils zur sexuellen Gewalt führen, hängt vom jeweiligen politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Rahmen ab, fasst Henri Myrtinnen von der Organisation International Alert im britischen Guardian zusammen.

Die weiblichen Opfer dürfen in manchen Kulturen nicht einmal innerhalb der Familie auf Hilfe hoffen. "In einer sehr konservativen Gesellschaft möchten die meisten Opfer nicht, dass die Leute wissen, was ihnen zugestoßen ist", sagte Dubravko Čampara, Staatsanwalt in Bosnien-Herzegowina, kürzlich im Guardian. Die Scham ist zu groß. "Wie bei keinem anderen Verbrechen geht bei einer Vergewaltigung die Schande der Tat vom Täter auf das Opfer über", berichtet etwa Medica Mondiale. Mancherorts - etwa im Kongo - werden vergewaltigte Frauen sogar verstoßen.

Ein noch größeres Tabu als die massenhafte sexualisierte Kriegsgewalt gegen Frauen ist die gegen Männer, obwohl sie ebenfalls eine "verbreitete Erscheinung gewalttätiger Konflikte - von Zentralamerika bis zum Kaukasus, vom Kongo bis Kambodscha" sei, schreibt etwa Henri Myrtinnen im Guardian. Als "Tabu im Tabu" bezeichnet sie Dubravka Žarkov, Sozialwissenschaftlerin am Institute of Social Studies in Den Haag. Žarkov hat die Vergewaltigungen von Männern während der Jugoslawienkriege untersucht, ihre Studien gehörten zu den ersten, die auf diese Verbrechen aufmerksam machten.

Bei diesen Studien zeigte sich, dass sich die Reaktion auf sexualisierte Gewalt bei den Geschlechtern in einigen Punkten unterscheidet. Männer sehen sich häufig in der Pflicht als wehrhafte Beschützer ihrer Familie. Bei ihnen kommt zur Erniedrigung und Demütigung als wehrloses Opfer noch das Gefühl der verletzten Männlichkeit hinzu. Und dort, wo Homosexualität nicht akzeptiert ist, ist es eine Schande, als Schwuler diffamiert zu werden.

Im ehemaligen Jugoslawien etwa wurden männliche Gefangene häufig gezwungen, sich öffentlich gegenseitig zu vergewaltigen oder an den Genitalien zu verstümmeln. Žarkov zufolge fanden Vergewaltigungen durch die Aufseher dagegen eher insgeheim statt, damit diese nicht selbst als unmännlich wahrgenommen würden.

Das Bild von Männern und Frauen muss sich ändern

Statt über das Verbrechen, das an ihnen begangen wurde, zu sprechen, reagieren manche selbst mit Gewalt - sogar gegen ihre eigenen Frauen -, um zu demonstrieren, dass sie noch richtige Männer sind. Andere dagegen trauen sich nicht mehr in ihre Familien zurück.

Wichtig wäre es deshalb unter anderem, Soldaten schon bei der Ausbildung für das Thema zu sensibilisieren. Darüber hinaus müsste sich aber das in vielen Gesellschaften noch immer vorherrschende Bild von dominanten Männern und schwachen Frauen ändern. So könnten zumindest einige der Motive der Vergewaltiger wegfallen: Je stärker Frauen als Individuen akzeptiert werden, die durch nationales und internationales Recht geschützt sind, und je weniger sie als Sexualobjekte, Eigentum von Männern oder von Gemeinschaften betrachtet werden, desto weniger eignen sie sich zum Ziel von Angriffen, mit denen Gegner demoralisiert werden.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Trotzdem verbreitete der britische Außenminister Hague am Ende des Gipfels Optimismus. Das Treffen in London habe das Bewusstsein für sexualisierte Gewalt in Konflikten "für immer verändert". In den kommenden Wochen werde man nun daran gehen, alle die Ideen, die diskutiert wurden, in die Realität umzusetzen.

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