Süddeutsche Zeitung

Vergangenheitsbewältigung:Österreichs Helden, Österreichs Lumpen

Nur halbherzig bekennt sich das Land zu seinen historischen Freiheitskämpfern. Das erleichtert es heute den Rechten, sich als Patrioten aufzuspielen.

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Als ich nach der Matura im seligen Jahr 1972 zum ersten Mal ein wenig in Europa unterwegs war, machte ich eine merkwürdige Erfahrung. Wohin immer mein Freund aus dem Gymnasium und ich kamen, mit langen Haaren, wenig Geld und einem neuartigen Bahnticket namens Interrail in der Tasche, stießen wir auf freundliche Aufnahme, sobald die Leute erkannt hatten, dass wir, die wir uns auf Deutsch unterhielten, keine Deutschen, sondern Österreicher waren. Die Sympathie, die uns, gleich ob in Holland oder Frankreich, entgegenschlug, galt nicht nur uns beiden als Individuen, zwei Maturanten aus Salzburg, sondern vielmehr den Österreichern, die wir waren, den Angehörigen eines Staates, mit dem die meisten Europäer damals etwas unbestimmt Positives verbanden.

Diese Sympathie für die Österreicher wurde durch eine Antipathie gesteigert; nämlich durch die Abneigung, auf die allenthalben die Deutschen stießen, die als Preußen, als Boches verschrien waren und fast überall mit Misstrauen, wenn nicht gar Ablehnung betrachtet wurden. Die Gleichaltrigen aus Deutschland, die wir trafen, konnten wir nur bedauern, denn als wären sie Repräsentanten eines Staates, dem nicht zu trauen war, schienen sie all jene Ressentiments auf sich zu ziehen, die man uns ersparte. Deutschland fiel eben die Schuld am Zweiten Weltkrieg, am Holocaust, an der Eroberung und Zerstörung so vieler Länder gänzlich ungeteilt zu, und dass es sich so schnell wieder zu imposanter wirtschaftlicher Größe erhoben hatte, ließ dieses Land und seine Leute vielen in Europa verdächtig erscheinen.

Natürlich war die Sympathie, mit der wir Österreicher unbesehen rechnen konnten, gewissermaßen unverdient. Dass sie uns wie von selbst zufiel, hatte mit einer fragwürdigen Sache zu tun: Die Welt, in der wir so hohes Ansehen genossen, hatte nur von unserem Geheimnis noch nicht erfahren.

Seither ist viel Zeit vergangen, und in den Jahren der Präsidentschaft Kurt Waldheims ist in Österreich eine Debatte über die lange verschwiegene, fast vergessene Rolle unseres Landes im Nationalsozialismus angestoßen worden; an ihr hatte und habe ich nur zu kritisieren, dass auch sie sich viel zu wenig auf jene bezog, von denen ohnedies so lange niemand etwas hatte wissen wollen: auf die Widerstandskämpfer, von denen damals noch einige lebten, die kennenzulernen ich das große Glück hatte. Ob sie katholisch geprägt oder kommunistisch orientiert waren, fast alle waren sie unerschütterliche Patrioten geblieben, überzeugt, dass nicht ihre dem Nationalsozialismus ergebenen Landsleute, sondern sie selbst für das wahre Österreich standen. Der Staat hat sich zwar ihre Leiden und Leistungen auf den Kriegs- und Friedenskonferenzen bedenkenlos gutgeschrieben, aber die drangsalierten oder ermordeten Antifaschisten des Landes nie wirklich gewürdigt.

Anton Schmid besaß ein kleines Radiogeschäft in einem Wiener Arbeiterbezirk, als er mit vierzig Jahren zur Wehrmacht einberufen wurde. Er wurde in das Ghetto von Wilna abkommandiert und hat als Feldwebel 300 Juden mit gefälschten Papieren versorgt und ihnen so die lebensrettende Flucht ermöglicht. 1942 wurde er enttarnt und hingerichtet. In Schleswig-Holstein ist im Jahr 2000 eine Kaserne der Luftwaffe nach ihm benannt worden, und zu dem Festakt reiste auch eine Delegation namhafter österreichischer Politiker an. Als diese Kaserne geschlossen wurde, hat eine andere deutsche Regierung 2016 einer Kaserne in Sachsen-Anhalt den Namen des Feldwebels Anton Schmid gegeben. Aus österreichischer Sicht ist es damit aber auch schon genug gewesen: Die Deutschen hatten einen Österreicher hingerichtet, also sollen gefälligst sie ihn ehren und würdigen! Bei uns ist es daher trotz vieler Initiativen bis heute nicht gelungen, nach Anton Schmid, der keiner politischen Bewegung zugehörte, dort eine Kaserne zu benennen, wo er geboren wurde und gelebt hat, in Österreich. Wie man die längste Zeit an den Verbrechen des Nationalsozialismus keine Mitschuld tragen wollte, hat man sich auch nicht dafür interessiert, jene als Vorbilder zu entdecken und ihnen im Selbstbild der Nation den gebührenden Rang zuzugestehen, die für die Demokratie, die Humanität ihr Leben riskierten, ihr Leben verloren.

Was das alles mit uns zu tun hat? Natürlich ist der Rechtsextremismus von heute nicht einfach der historische Wiedergänger des Nationalsozialismus von einst. Auch nicht in Österreich, wo eine rechtsextreme, nicht rechtspopulistische, Partei nach den blamablen Enthüllungen von Ibiza die Regierung verlassen musste, in die sie nach den Wahlen im Herbst als zum wiederholten Male geläuterte Bewegung vermutlich wieder zurückkehren wird. Ihre Kraft bezieht die FPÖ nicht allein aus der Geschichtsklitterung, sondern aus Problemen, die sich heute stellen - und, natürlich, aus der Unfähigkeit oder auch dem Unwillen der etablierten Parteien, diese mit sozialen, kulturellen, politischen Lösungen anzugehen.

Und doch erweist sich gerade heute wieder, wie fatal es ist, dass Österreich sich nur so halbherzig zu all jenen bekennt, die über die Jahrhunderte gegen die Obrigkeit ankämpften und von dieser lächerlich gemacht, zum Schweigen gebracht, ermordet wurden. Das erleichtert es Lumpen, sich als die wahren Patrioten aufzuspielen, auch wenn sie gerade dabei ertappt wurden, die ach so teure Heimat an den Bestbietenden zu verscherbeln; und sich als Opfer zu präsentieren, die gutgläubig, wie sie nun mal sind, von ausländischen Medien und inländischen Verrätern in die Falle gelockt wurden. Es hat bis zur Wahl zum Europäischen Parlament nur eine Woche gebraucht, dass die Anhänger der FPÖ fast vollzählig wieder darauf eingeschworen waren, die Schuld nicht bei ihren Parteiführern und deren Wählern, also bei sich, zu suchen, sondern bei dubiosen Dunkelmännern, die Österreichs Helden der Heimatpartei wieder einmal bösartig verleumden.

Es ist kein Zufall, dass Österreich heute gerade in Ländern beliebt ist, in denen mit der Abschaffung der Demokratie experimentiert wird. Die Regierung hatte redlich daran gearbeitet, sich diese Sympathie zu verdienen; aber ich hoffe, sie ist trotzdem ungerecht, wie die, mit der ich es in meiner Jugend beglückt zu tun bekam.

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Quelle:
SZ vom 31.05.2019
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