Verfassungsschutzbericht:Zunehmend gewaltbereit

"Wir können nicht sagen, wir haben die Dinge im Griff": Innenminister Seehofer beklagt eine wachsende Zahl von Extremisten - links, rechts und im islamistischen Spektrum.

Von Constanze von Bullion, Berlin

In Deutschland gedeiht der Extremismus, ob ganz rechts, ganz links oder im islamistischen Spektrum. Das zeigt der Verfassungsschutzbericht 2017, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Dienstag mit dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, vorgestellt hat. Demnach ist die Zahl politisch motivierter Straftaten 2017 zwar um 4,9 Prozent gesunken. Gleichzeitig stieg aber die Zahl gewaltbereiter Extremisten deutlich. "Die Bedrohungslagen unserer freiheitlichen Gesellschaft sind vielfältig", sagte Seehofer. Auch im rechtsextremistischen Bereich sei zu beobachten, dass sich "Bürger innerhalb kürzester Zeit radikalisieren". Die Gründe dafür müssten näher untersucht werden. "Es ist viel geschehen, aber wir können nicht sagen, wir haben die Dinge im Griff."

Im Verfassungsschutzbericht, dessen Vorstellung Seehofer wegen des Streits um seine Asylpolitik mehrfach vertagt hatte, bereite ihm insbesondere der Islamismus Sorge, sagte der Innenminister. "Mit 774 Gefährdern zählen wir heute so viele Personen wie nie zuvor, denen wir die Begehung schwerer Straftaten zutrauen." Bei ihrer Identifizierung und Abschiebung müsse Deutschland "noch besser werden".

Bei der sogenannten Ausländerkriminalität liefert der Bericht keine Vergleichszahlen zu 2016, da die Zählweise geändert wurde. Allerdings zeichne sich "eine Kräfteverschiebung in den gewaltorientierten beziehungsweise dschihadistischen Bereich ab". Die Behörden rechneten rund 1900 Salafisten dem "islamistisch-terroristischen Personenpotenzial" zu, Tendenz steigend. Die Niederlage des "Islamischen Staates" (IS) bedeute keine Entwarnung für Deutschland, so Verfassungsschutzpräsident Maaßen. Sorgen bereiteten insbesondere Kinder ehemaliger IS-Aktivisten, die "dschihadistisch sozialisiert" worden seien und deren Erziehung eine "völlige Verkehrung der uns bekannten Lebenswerte" kennzeichne.

Das aktuelle Lexikon: Selbstverwalter

Die sogenannten Selbstverwalter werden seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet und zur "Reichsbürgerbewegung" gerechnet. Deren Mitglieder erkennen die Bundesrepublik Deutschland und ihre Institutionen nicht an. Doch während "Reichsbürger" sich auf ein historisches "Deutsches Reich" beziehen, lehnen "Selbstverwalter" jede staatliche Ordnung als Bevormundung ab. Oft gründen sie eigene Scheinstaaten, und sei es in der eigenen Wohnung. Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht verzeichnen beide Gruppen starken Zulauf. Dem Bericht zufolge sind drei Viertel der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" männlich und älter als 40 Jahre. Psychologen zufolge sind sie überdurchschnittlich oft sozial isoliert und mit übersteigertem Selbstbewusstsein ausgestattet. 900 der etwa 16 500 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" werden als rechtsextrem eingeschätzt. Die meisten Straftaten der Bewegung richten sich nicht gegen Minderheiten, sondern gegen den Staat und dessen Vertreter. Die Täter versuchen oft, ihre Taten als Notwehr zu rechtfertigen, etwa im Fall von Adrian U., der 2016 für Schlagzeilen sorgte. Als Polizisten damals das Grundstück von U. in Sachsen-Anhalt pfänden wollten, empfand dieser das als "Angriffskrieg" der Bundesrepublik auf seinen Staat "Ur" und schoss auf einen Beamten.

Lilith Volkert

Das Aggressionspotenzial wächst, auch bei Rechtsextremen. Die Zahl der Gewalttaten sank 2017 zwar von 1600 auf 1054 registrierte Fälle. Und während die Behörden 2016 noch 153 Anschläge auf Asylbewerberheime zählten, waren es im Folgejahr 42. Zugleich stieg die Zahl gewaltorientierter Rechtsextremisten von 12 100 auf 12 700 Personen. Die "Gefahr der Entwicklung rechtsterroristischer Ansätze" könne nicht ausgeschlossen werden, so der Bericht. Die Extremisten seien den Behörden "oft nicht einschlägig bekannt", sie planten aber bereits einschlägig rechtsextremistische Straftaten, sagte Seehofer. Eine wissenschaftliche Untersuchung soll nun klären, was diese rapide Radikalisierung bedingt. Zulauf hatten erneut sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter, ihre Zahl stieg auf 18 000 Personen an. Sie leugnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und wollen den Rechtsstaat bekämpfen, auch mit Waffen. Oft beschäftigen sie Behörden mit pseudo-juristischen Schreiben und fordern "Selbstverwaltung" oder eigene "Hoheitsgebiete". Beunruhigend sei hier die "Waffenaffinität", sagte Maaßen. Nur neun Prozent der Personen seien rechtsextremistisch. Im Verfassungsschutzbericht heißt es hierzu, "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" seien "bereit, ihre Waffen für schwerste Gewalttaten einzusetzen". 2017 drohte ein "Reichsbürger" einem Potsdamer Richter, wenn dieser den Rechtsextremisten Horst Mahler nicht freilasse, habe er mit der "Entfernung des Mittelfingers, Ringfingers und des kleinen Fingers an der linken Hand zu rechnen". Zunehmend gewaltbereit zeigte sich aber auch der äußerste linke Rand der Gesellschaft. Die Behörden registrierten sechs Prozent mehr gewaltorientierte Autonome und Linksextremisten. Hier stieg die Zahl der Gewalttaten um mehr als ein Drittel, bei Gewalt gegen Polizeibeamte seien es sogar mehr als 65 Prozent, so Seehofer. Anlass war hier der Protest beim G-20-Gipfel. Registriert wurden zudem 52 000 Cyberangriffe auf Regierungsnetzwerke, vorwiegend aus China und Russland.

"Die von Jahr zu Jahr steigenden Zahlen von Extremisten wachsen sich immer mehr zu einer Bedrohung für unsere Demokratie aus", sagte der SPD-Innenpolitiker Burkhard Lischka. "Wir brauchen mehr Prävention, mehr Koordination und mehr zivilgesellschaftliches Engagement." Es gebe "keine Entwarnung", so Armin Schuster (CDU). "Der Verfassungsschutzbericht zeigt einmal mehr, dass die Bundesregierung die Reichsbürgerbewegung schändlich unterschätzt hat", betonte der Grünen-Politiker Konstantin von Notz. "Nun gilt es, Konsequenzen zu ziehen und der Reichsbürger-Szene die Waffen zu entziehen", sagte Martina Renner (Linke).

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