Süddeutsche Zeitung

Meinung am Mittag: Verfassungsschutzbericht:Kriminalität von rechts ist viel gefährlicher als von links

Rechtsextremisten finden heute jenen Anschluss im Volk, den Linksextremisten weder hatten noch haben. Die Wahlergebnisse der AfD sind der Ausdruck davon.

Kommentar von Detlef Esslinger

Im vergangenen Jahr hat es in Deutschland dreimal mehr Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund gegeben als mit linksextremistischem - doch der Rechtsextremismus ist zehnmal so gefährlich, mindestens. Dies festzustellen bedeutet nicht, all die Sachbeschädigungen, Brandstiftungen oder gar die beiden versuchten Tötungsdelikte kleinzureden, die der Verfassungsschutz der linksextremistischen Szene zurechnet. Auflistungen, wie sie auch der neue Verfassungsschutzbericht enthält, sind immer ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Teil der Aufklärung. Auf Seite 59 des 388 Seiten umfassenden Berichts steht ein Satz, der viel bedeutender ist, als er sich auf den ersten Blick liest. Die Autoren schreiben, wie Rechtsextremisten die digitalen Netzwerke nutzen: "Sie leisten einen Beitrag zur Verrohung der Sprache und Konsensverschiebung im öffentlichen Diskurs." Wohlgemerkt, da steht nicht, dass sie dies lediglich versuchen - sondern, dass sie damit erfolgreich sind. Zu den Ritualen im Meinungskampf gehört der Vorwurf, jemand sei wahlweise auf dem rechten oder linken Auge blind; je nachdem welches Verbrechen einer gerade verdammt, ohne im selben Satz auch eine Tat von Extremisten der anderen Seite zu benennen. Und weil Menschen nun mal aus verschiedenen Winkeln auf die Welt blicken, gelingt es dem einen besser, dem anderen schlechter, über die Taten der einen auch die der anderen im Auge zu behalten.

Jedes einzelne Verbrechen ist ein Fall für den Strafrichter, ganz gleich wer es aus welchen Motiven begeht. Dass der Rechtsextremismus derzeit so viel gefährlicher als der Linksextremismus ist, liegt nicht nur an der höheren Zahl der Delikte; und auch nicht allein daran, dass es Rechtsextreme waren, denen wohl der das Land aufwühlende Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die es ebenso erschütternden Morde von Halle und Hanau zuzuschreiben sind. Rechtsextremisten finden heute jenen Anschluss in Teilen des Volkes, den Linksextremisten noch nie hatten. Die Wahlergebnisse der AfD sind der Ausdruck davon.

Zum ersten Mal kommt die Partei im Verfassungsschutzbericht vor, in Gestalt ihrer Nachwuchsorganisation "Junge Alternative" (JA) und des "Flügel", der inzwischen zwar als Gruppe aufgelöst ist, dessen Mitglieder aber unverändert in der Partei wirken. Der Bericht zitiert deren eindeutig-zweideutige Parolen, etwa die von der AfD als "letzter evolutionärer Chance für dieses Land". Höcke, Kalbitz und Kollegen verbergen ihre Absichten ja keineswegs; der Vorsitzende Jörg Meuthen hat entweder nicht den Willen oder nicht die Macht, solche Leute loszuwerden - und viele derjenigen, die diese Partei wählen, sind Biedermänner, die Brandstifter für Feuerwehrleute halten.

Es ist daher überfällig, dass der Verfassungsschutz nun Teile der AfD beobachtet. Der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, sagt zu Recht, manche Leute müssten sich entscheiden: "Entweder AfD oder Polizist." Da sich aber nicht jeder selber entscheiden will, gehört eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu den Voraussetzungen, um überhaupt juristisch eine Handhabe gegen AfD-Mitglieder im Staatsdienst zu bekommen. Und sollte die Partei so bleiben, wie sie ist, wird es bei der Beobachtung von Flügel und JA nicht bleiben können. Sie wird dann im Ganzen ein Fall für den Verfassungsschutz.

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SZ vom 10.07.2020/saul
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