Womöglich ist es am Ende einfach nur konsequent, dass das Schicksal der Türkei nun in den Händen der Bürger liegt. Das Parlament in Ankara hat sich als zu schwach erwiesen, auch nur sich selbst zu schützen. Am Wochenende hat die Regierungspartei AKP unter Recep Tayyip Erdoğan mit den Stimmen der Ultranationalisten eine weitere Hürde für den großen Systemwechsel genommen: Sie verabschiedeten mit Dreifünftel-Mehrheit jene Verfassungsreform, die Erdoğan mittels Präsidialsystem auch formal zum Alleinherrscher des Landes macht. Das Parlament verkümmert darin zur Demokratie-Kulisse im Erdoğan-Staat.
Zur drohenden Entmachtung der Großen Nationalversammlung haben alle Parteien ihren zerstörerischen Beitrag geleistet. Die regierende AKP hat sich ohnehin längst ihrem Mitgründer Erdoğan unterworfen. Ihr Vorgehen überrascht kaum. Die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, hat maßgeblich an der Demontage der pro-kurdischen Partei HDP mitgewirkt. Deren Vorsitzende und zahlreiche weitere Abgeordnete sitzen im Gefängnis, nachdem die CHP zugestimmt hatte, die Immunität etlicher Parlamentarier aufzuheben.
Die HDP wiederum ist wegen ihrer ambivalenten Haltung zur Terrorgruppe PKK damit gescheitert, den Kurdenkonflikt von der Straße zur politischen Lösung ins Parlament zu tragen. Die ultranationalistische MHP liefert sich Erdoğan aus purem Egoismus ihres Vorsitzenden aus. Er hofft auf ein politisches Überleben in herausgehobener Position im neuen Präsidialsystem, auch wenn dies das Ende seiner Partei bedeuten dürfte.
Erdoğan führt das Land direkt in die Vergangenheit
Der Reformvorschlag, der am Wochenende das Parlament passierte, dürfte das Land so gravierend verändern, wie zuvor nur die Abschaffung des Sultanats und der Übergang vom Einparteiensystem zum Mehrparteiensystem im Jahr 1946. Erdoğan führt das Land aber nicht in die Zukunft, er führt es direkt in die Vergangenheit.
Der Zeitpunkt für eine Verfassungsänderung ist hingegen gar nicht so verkehrt: Nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr und dem wieder voll aufgebrochenem Kurdenkonflikt hätte eine Reform, welche die Demokratie stärkt, sogar befriedenden Charakter haben können. Unter dieser Bedingung wäre den Bürgern auch der Wechsel zum Präsidialsystem vermittelbar, es ist nicht automatisch das schlechtere. Eine Reform hätten für einen neuen gesellschaftlichen Konsens stehen können.
Das Referendum ist die letzte Chance, die Demokratie zu retten
Diese Chance hat Erdoğan vergeben, weil er in seinem Machtstreben maßlos ist. Die Spaltung der Gesellschaft wird auf Ebene der politischen Institutionen betoniert. Sollte Erdoğan seinen Willen bekommen, werden sich künftig nur noch zwei Blöcke gegenüber stehen: Erdoğans islamisch-nationalistischer und der von der CHP dominierte säkulare Block. Am schwierigsten wird es für die kurdische Bewegung sein, im neuen System noch einen Platz zu finden. Wahrscheinlich treibt es Teile von ihr in die Resignation und andere in die Arme jener extremistischen, terroristischen Gruppen, die gar kein Interesse an einer politischen Lösung mehr haben.
Ganz so weit ist es noch nicht. Das letzte Wort haben die Bürger.
Es stimmt schon: Der Wahlkampf zum Referendum ist ungerecht. Oppositionspolitiker sitzen im Gefängnis, regierungskritische Medien sind reihenweise geschlossen worden. Im Ausnahmezustand, den die Regierung verhängt hat, ist ein fairer Wettbewerb ausgeschlossen. Dies heißt keineswegs, dass die Bürger nicht wüssten, worum es geht. Bei der Parlamentswahl im Sommer 2015 erteilten die Bürger Erdoğans Plänen für ein Präsidialsystem eine überraschend deutliche Absage. Die Selbstbehauptungskräfte in der türkischen Gesellschaft sollte niemand unterschätzen. Erdoğan ist noch nicht am Ziel.