Verfassungsreform in der Türkei:Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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Die Türkei wird immer europäischer, aber die EU kann sich nicht für einen Beitritt entscheiden. Das ist gefährlich, denn es fördert politischen Fatalismus.

Christiane Schlötzer

Die Türkei wird demokratischer, liberaler, weltoffener. Eine große Mehrheit der Türken wünscht sich ein Land, dessen Grundordnung sich im Großen und Ganzen nicht von den Staaten des Westens unterscheidet, in dem Bürgerrechte etwas gelten und die Kräfte der Willkür die Justiz fürchten müssen. Mit überwältigender Mehrheit haben die Türken sich in einer demokratischen Abstimmung für diesen Weg der Modernisierung ihres Landes entscheiden. Genauso frei und selbstbewusst, wie es die nun gebilligte Verfassungsreform verspricht, wollte Europa die Türkei eigentlich immer haben. Alles gut also? Nicht wirklich.

Die Flagge der Türkei weht vor dem Reichstag in Berlin neben der Fahne der Europäischen Union (EU): Bei den Verhandlungen über einen Beitritt des Landes gibt es viele Baustellen. Wenn kein politisches Wunder geschieht, könnten die Gespräche schon im kommenden Jahr eingefroren werden. (Foto: ddp)

Je entschiedener die Türkei alte Fesseln ablegt, desto deutlicher tritt der Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit hervor - weil Europa sich nicht entscheiden kann, ob es die Türkei wirklich will. Der europäische Chorgesang bleibt, was Anatolien betrifft, verzagt und dissonant. Die Regierung von Tayyip Erdogan kann, wie von der EU gefordert, politisch hyperaktive Generäle in die Schranken weisen, Kurdisch im Staatsfernsehen gestatten, und sie kann mit ihrem Wirtschaftswachstum alle EU-Staaten übertreffen - all das nützt Ankara in Brüssel letztlich wenig.

Die Unterhändler in den EU-Gesprächen treten seit fünf Jahren praktisch auf der Stelle. Ganze Verhandlungskapitel sind gesperrt durch ein Veto Zyperns (wegen des Streits um die geteilte Insel), Griechenlands (aus Solidarität mit Zypern) oder Frankreichs, wegen grundsätzlicher Bedenken, ob die Türkei zu Europa passt. Wenn kein politisches Wunder geschieht, könnten die EU-Gespräche schon 2011 eingefroren werden, weil es dann nichts mehr zu bereden gibt.

In der Türkei hat die EU-Begeisterung schon vor einer Weile merklich nachgelassen. Selbst bei glühenden Europa-Befürwortern herrscht mittlerweile das Gefühl vor, was auch immer ihr Land tue, es werde für die EU nie genug sein. Diese Stimmung ist gefährlich, weil sie zu politischem Fatalismus führen könnte. Die hohe Zustimmung in dem Referendum zeigt glücklicherweise aber etwas anderes: Da leuchtet ein Hoffnungszeichen, weil der europäische Geist in der Türkei nach wie vor wirkt. Die Wähler haben sich als reifer erwiesen als jene Reformgegner, die zeterten, mit der Verfassungsänderung werde die Türkei künftig von Brüssel aus gesteuert.

Das Ja zur Modernisierung des Landes geht weit über das Lager der Anhänger der Regierungspartei von Erdogan hinaus - auch das zeigt das Referendum. Es bleibt damit einer der Grundwidersprüche der Türkei, dass ausgerechnet eine Kraft mit Wurzeln im politischen Islam mit beachtlicher Konsequenz den Weg nach Westen fortsetzt, den Republikgründer Kemal Atatürk vor 90 Jahren vorgab. Vielleicht ist es das, was die Opposition, die sich als Verteidigerin von Atatürks Erbe sieht, so wütend und europaskeptisch macht. Europa sollte es besser wissen und der Türkei für ihre Fortschritte den nötigen Respekt zollen.

© SZ vom 14.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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