Es gibt Skandale, die gleichsam ohne Fundament sind: Etwas ist grandios schiefgelaufen, aber es steckt kein generelles Problem dahinter. Der Fall Gustl Mollath gehört nicht zu dieser Kategorie. Dass dahinter ein Systemfehler steckt, wird umso deutlicher, je länger er sich hinzieht.
In wenigen Wochen wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob seine nunmehr sieben Jahre währende Unterbringung in der Psychiatrie noch haltbar ist. Dabei dürfte Karlsruhe mindestens eine neuerliche, intensive Überprüfung der Gründe anmahnen, aus denen Mollath immer noch als krank und gefährlich eingestuft wird. Es ist nicht der einzige Fall dieser Art: Seit einigen Jahren häufen sich in Karlsruhe Verfassungsbeschwerden von Menschen, die mit lustlos begründeten gerichtlichen Anordnungen viele Jahre in der Psychiatrie weggesperrt werden. Und in aller Stille kassieren die Verfassungsrichter eine Entscheidung nach der anderen ein.
Zuletzt ging es um einen Mann, der 1992 wegen Brandstiftung in die Psychiatrie eingewiesen worden war. 1997 wurde er auf Bewährung entlassen und 2002 erneut eingewiesen - unter anderem, weil er betrunken eine Kuh des Nachbarn mit der Mistgabel verletzt hatte. Therapien lehnte er ab, seine Alkoholsucht bekam er nicht in den Griff. Vor zwei Jahren verlängerte das Landgericht Wiesbaden die Unterbringung, weil von ihm auch in Zukunft Straftaten zu erwarten seien. Welche, das blieb offen: Ob der Delinquent künftig Häuser anzünden oder Kühe mit Mistgabeln traktieren werde, hielt die Strafvollstreckungskammer für nicht weiter erwähnenswert. Die Verfassungsrichter schickten den Fall nach Wiesbaden zurück.
Wenn einem Menschen die Freiheit entzogen werde, dann müsse schon geklärt sein, "welche Art erheblicher rechtswidriger Taten vom Beschwerdeführer drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist", heißt es in der vom Ex-Ministerpräsidenten Peter Müller formulierten Entscheidung.
Verletzung von Artikel 2 Absatz 2 - Freiheit der Person
Es geht hemdsärmlig zu, wenn Menschen für Jahre weggesperrt werden. Das Landgericht Kleve zog bei einem an einer Psychose leidenden Räuber nicht einmal die Akten des Urteils bei. Und das Landgericht Gießen überzog die Überprüfungsfrist um ein halbes Jahr, kommentarlos. Alle bekamen sie Post aus Karlsruhe, Tenor: Die Entscheidung verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 - Freiheit der Person.
So geht es ein ums andere Mal. Ein wegen sexuellen Missbrauchs zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilter Mann saß mehr als 13 Jahre in der Psychiatrie. Doch das Landgericht Lübeck begnügte sich mit einer Schilderung der damaligen Delikte sowie einer Stellungnahme der Klinik. Wie gefährlich er heute noch sei, ob Therapien und Medikamente angeschlagen hätten - dazu schwiegen die Richter. Und dem Oberlandesgericht Bamberg genügte bei einer seit zwölf Jahren in der Psychiatrie sitzenden Frau, die im Wahn ihren Mann umgebracht hatte, der Hinweis, es drohten "vergleichbare rechtswidrige Taten". Obwohl der Sachverständige weder Mord noch Totschlag prognostiziert hatte, sondern "allenfalls" Körperverletzungen.
Die Zahlen bestätigen den Missstand: Seit Jahren steigt die Zahl der in der Psychiatrie Untergebrachten. 2012 lag sie bezogen auf die alten Bundesländer bei 6750 und hat sich in anderthalb Jahrzehnten dort mehr als verdoppelt. Grund dafür ist, dass die Eingewiesenen länger drin bleiben: In NRW beispielsweise stieg der Anteil jener, die mindestens zehn Jahre in der Psychiatrie verbracht haben, innerhalb von zehn Jahren von gut 20 auf 25 Prozent.
Das Bundesverfassungsgericht könnte auf diese Fehlentwicklung mit einem donnernden Grundsatzurteil reagieren. Es könnte festlegen, dass solche Anordnungen äußerst fundiert begründet werden müssen. Dass eine greifbare Gefährlichkeit dafür Voraussetzung ist. Dass eine Unterbringung umso schwerer begründbar ist, je länger sie dauert. Nur hat das Gericht all dies längst formuliert, und zwar in einem Beschluss vom 8. Oktober 1985. An den sich offenkundig kaum jemand hält.
Weniger spektakulär, aber womöglich wirksamer ist die nun verfolgte Taktik der kleinen Nadelstiche. In vielen kleinen Beschlüssen hebt Karlsruhe Anordnung um Anordnung auf, bis das Freiheitsgrundrecht in den Vollstreckungskammern wieder Achtung genießt. Die Strategie hat schon einmal verfangen, als den Verfassungsrichtern vor rund zehn Jahren aufgefallen war, dass Verdächtige oft unnötig lang in Untersuchungshaft blieben. Heute vergisst kein Strafrichter mehr, dass "Haftsachen" vorrangig zu bearbeiten sind.
Für ein zeitgemäßes Unterbringungsrecht werden jedoch politische Reformen nötig sein. Zwar hat Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) jüngst "Reformüberlegungen" vorgelegt, die auf kürzere Fristen und präzisere Vorgaben zur Begutachtung setzen. Die tieferen Ursachen werden dort aber nur gestreift. Drei Viertel der Zwangseingewiesenen seien vorher in der allgemeinen Psychiatrie gewesen, heißt es in dem Papier lapidar: "Dieser Umstand könnte auf die deutliche Verkürzung in den klinischen Behandlungszeiten (oftmals aufgrund von Sparzwängen) zurückzuführen sein."
"Drehtür-Psychiatrie"
Die Menschen werden zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen, weil sie aus der freiwilligen Behandlung zu eilig entlassen werden: Das ist eine atemberaubende Erkenntnis. Nur kommt sie ziemlich spät. Fachleute wie der Jurist Heinz Kammeier diskutieren dieses Phänomen seit vielen Jahren als "Drehtür-Psychiatrie". Weil die Krankenkassen immer weniger lange Behandlungen finanzierten, steige die Zahl der chronisch an Schizophrenie Erkrankten. Am Ende stehen oft sozialer Abstieg und Straftaten; Schizophrenie-Kranke machen die Hälfte der zwangsweise Untergebrachten aus.
Kammeier plädiert für ein flexibleres System. Neben der geschlossenen Psychiatrie müsse es weitere Vollzugsmöglichkeiten geben: Offene Stationen, Therapien, ambulante Nachsorge. Das würde die vielen Schattierungen zwischen hochgefährlichen und vollständig harmlosen Menschen abbilden. Wer seine Gewalttätigkeit einigermaßen im Griff hat, der wird besser eng in Freiheit betreut als dauerhaft eingesperrt. Bund, Länder und auch Kommunen müssten gemeinsam ein eng verzahntes System aus Zwangsunterbringung und Hilfsangeboten schaffen. Ein kompliziertes Projekt. Aber helfen würde es schon.