Verfassungsgericht zu Psychiatrie-Einweisungen:Nadelstiche für die Freiheit

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Viel zu leicht und zu lange werden Menschen in der Psychiatrie eingesperrt. Die Beschwerden häufen sich, weil deutsche Gerichte ihre Anordnungen lustlos begründen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kassiert diese Entscheidungen der Reihe nach - mit System.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es gibt Skandale, die gleichsam ohne Fundament sind: Etwas ist grandios schiefgelaufen, aber es steckt kein generelles Problem dahinter. Der Fall Gustl Mollath gehört nicht zu dieser Kategorie. Dass dahinter ein Systemfehler steckt, wird umso deutlicher, je länger er sich hinzieht.

In wenigen Wochen wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob seine nunmehr sieben Jahre währende Unterbringung in der Psychiatrie noch haltbar ist. Dabei dürfte Karlsruhe mindestens eine neuerliche, intensive Überprüfung der Gründe anmahnen, aus denen Mollath immer noch als krank und gefährlich eingestuft wird. Es ist nicht der einzige Fall dieser Art: Seit einigen Jahren häufen sich in Karlsruhe Verfassungsbeschwerden von Menschen, die mit lustlos begründeten gerichtlichen Anordnungen viele Jahre in der Psychiatrie weggesperrt werden. Und in aller Stille kassieren die Verfassungsrichter eine Entscheidung nach der anderen ein.

Zuletzt ging es um einen Mann, der 1992 wegen Brandstiftung in die Psychiatrie eingewiesen worden war. 1997 wurde er auf Bewährung entlassen und 2002 erneut eingewiesen - unter anderem, weil er betrunken eine Kuh des Nachbarn mit der Mistgabel verletzt hatte. Therapien lehnte er ab, seine Alkoholsucht bekam er nicht in den Griff. Vor zwei Jahren verlängerte das Landgericht Wiesbaden die Unterbringung, weil von ihm auch in Zukunft Straftaten zu erwarten seien. Welche, das blieb offen: Ob der Delinquent künftig Häuser anzünden oder Kühe mit Mistgabeln traktieren werde, hielt die Strafvollstreckungskammer für nicht weiter erwähnenswert. Die Verfassungsrichter schickten den Fall nach Wiesbaden zurück.

Wenn einem Menschen die Freiheit entzogen werde, dann müsse schon geklärt sein, "welche Art erheblicher rechtswidriger Taten vom Beschwerdeführer drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist", heißt es in der vom Ex-Ministerpräsidenten Peter Müller formulierten Entscheidung.

Verletzung von Artikel 2 Absatz 2 - Freiheit der Person

Es geht hemdsärmlig zu, wenn Menschen für Jahre weggesperrt werden. Das Landgericht Kleve zog bei einem an einer Psychose leidenden Räuber nicht einmal die Akten des Urteils bei. Und das Landgericht Gießen überzog die Überprüfungsfrist um ein halbes Jahr, kommentarlos. Alle bekamen sie Post aus Karlsruhe, Tenor: Die Entscheidung verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 - Freiheit der Person.

So geht es ein ums andere Mal. Ein wegen sexuellen Missbrauchs zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilter Mann saß mehr als 13 Jahre in der Psychiatrie. Doch das Landgericht Lübeck begnügte sich mit einer Schilderung der damaligen Delikte sowie einer Stellungnahme der Klinik. Wie gefährlich er heute noch sei, ob Therapien und Medikamente angeschlagen hätten - dazu schwiegen die Richter. Und dem Oberlandesgericht Bamberg genügte bei einer seit zwölf Jahren in der Psychiatrie sitzenden Frau, die im Wahn ihren Mann umgebracht hatte, der Hinweis, es drohten "vergleichbare rechtswidrige Taten". Obwohl der Sachverständige weder Mord noch Totschlag prognostiziert hatte, sondern "allenfalls" Körperverletzungen.

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