Verfassungsgericht entscheidet über Euro-Rettungsschirm:Spinne im Netz politischer Entscheidungen

Das Bundesverfassungsgericht mischt sich zu sehr in die Politik ein, heißt es oft. Nun entscheidet es mit dem Rettungsschirm ESM erneut über ein politisches und wirtschaftliches Thema. Doch was hat das Gericht dort zu suchen?

Wolfgang Janisch

Seit Jahrzehnten gehört die Behauptung, das Bundesverfassungsgericht mische sich zu sehr in die Politik ein, zum festen Arsenal politischer Rhetorik. Meist geht der Vorwurf ins Leere, denn das Gericht ist nun mal für das Überprüfen und damit auch für das Aufheben von Gesetzen zuständig. Der Eingriff ins politische Werk ist dem Gericht also wesenseigen; dass es hier und da überziehen mag, ändert daran nichts. Trotzdem wäre es nicht weiter schlimm, dass das Gericht gelegentlich aus falschem Anlass kritisiert wird. Nur vernebelt solche Kritik, was sie eigentlich aufzudecken vermeint: Dass das Bundesverfassungsgericht in der Tat eine politisch agierende Institution ist.

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht handelt politisch. Dabei geht es auch darum, in Europa mitzuentscheiden.

(Foto: dpa)

Besichtigen lässt sich dies derzeit im Verfahren um den permanenten Rettungsschirm ESM und den europäischen Fiskalpakt. Das Gericht findet sich bei der Euro-Rettung unversehens in einer zentralen Position wieder - obwohl die Frage, wie Schuldenstaaten stabilisiert und deren Wirtschafts- und Finanzsektor gestützt werden kann, politisch und ökonomisch beantwortet werden muss, nicht juristisch. Was also hat das Gericht dort zu suchen?

Die einfache, also strikt verfassungsrechtliche Erklärung lautet: Wenn die Haftung Deutschlands zu gewaltig ausfällt, droht das Haushaltsrecht des Bundestags unterspült und damit dessen politische Gestaltungsfähigkeit auf null reduziert zu werden. Das ist ein plausibler Ansatz, der im Demokratieprinzip sein Fundament hat: Die Regierung darf den Bundestag nicht durch seine europaweiten Geldzusagen finanziell austrocknen. Das darf nicht einmal der Bundestag selbst.

Wie das Gericht aber zur Spinne im Netz politischer Entscheidungen geworden ist, das lässt sich auch als Institutionengeschichte erzählen. Es ist die Geschichte eines Gerichts, das seit jeher erfolgreich seine Mitsprache an den großen Fragen der Nation reklamiert hat.

"Schicksalsfragen"

Der Aufstieg des Gerichts in die Reihe der politischen Institutionen begann kurioserweise damit, dass sich das Gericht einem politischen Ränkespiel erfolgreich entzogen hat. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik entbrannte der Konflikt um die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ein Konflikt, der - auch dies sollte prägend für die politische Streitkultur werden - unter Einschaltung des neuen Karlsruher Gerichts ausgetragen wurde. Die SPD erhob Klage, zuständig war ausgerechnet der "rote" Erste Senat des Gerichts, mehrheitlich mit von der SPD benannten Richtern besetzt. Konrad Adenauer versuchte mit prozesstaktischen Winkelzügen, den Zweiten, den "schwarzen" Senat ins Spiel zu bringen - doch das Gericht ließ den Kanzler auflaufen.

Und nicht nur das: Es ernannte sich mit einer "Statusschrift" selbst zum Verfassungsorgan - und setzte sich damit politisch durch. Fortan sollte sich das Gericht, das nun mehr als nur eine Einrichtung der Justiz war, in "Schicksalsfragen der Nation" zu Wort melden. Genau das hatte Adenauer verhindern wollen.

Die Strategie, mit der sich das Gericht ins politische Terrain vorarbeitet, lässt sich mustergültig im Urteil vom 1973 zum Grundlagenvertrag beobachten. Wieder so eine Schicksalsfrage, diesmal ging es um die faktische Anerkennung der DDR.

"Verzicht, Politik zu treiben"

Mit hohem argumentativem Aufwand begründete das Gericht, warum es von der Überprüfung dieser fundamentalen Entscheidung - immerhin steht das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes - nicht ausgeschlossen sein darf. Die übrigen Verfassungsorgane hätten "alles zu unterlassen, was dem Bundesverfassungsgericht eine rechtzeitige und wirksame Ausübung seiner Kompetenz erschweren oder gar unmöglich machen könnte".

Im klaren Kontrast zur institutionellen Selbsterhöhung steht die politische Zurückhaltung in der Sache selbst. Gewiss, das Gericht dekretierte, die deutsche Einheit müsse das staatliche Ziel bleiben und dürfe von keinem Verfassungsorgan aufgegeben werden. Doch war dies eine Vorgabe, die den politischen Spielraum nur moderat einengte: Welcher Weg zur Einheit führt, das hat die Politik zu entscheiden.

Das Gericht buchstabierte den Grundsatz des "judicial self-restraint" - der es sogar in den Leitsatz schafft - in der Entscheidung aus. Er bedeute eben nicht eine Abschwächung der Prüfungskompetenz des Gerichts, "sondern den Verzicht 'Politik zu treiben', d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen".

Es geht darum, den Fuß in der Türe zu haben

Der Ehrgeiz, an den Schicksalsfragen der Nation beteiligt zu sein, ist auch im aktuellen Rettungsschirmverfahren eine treibende Kraft. Der Zweite Senat hat dafür einen beträchtlichen Aufwand betrieben. Als die Klagen Ende Juni in Karlsruhe eintrafen, waren die Richter bereits in die Materie eingelesen; keine zwei Wochen später, am 10. Juli, traf man sich in Karlsruhe zur Verhandlung im Eilverfahren.

Als Termin für die Eilentscheidung hatte der Senat intern bereits den 26. Juli notiert - doch als sich während der Anhörung zeigte, dass die Märkte womöglich noch länger warten könnten, fragte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle spontan: Das Gericht erwäge, sich etwas mehr Zeit zu lassen - wie die Regierung denn dazu stehe? Inzwischen steht der 12. September als Verkündungstermin, intern arbeiten vier Richter und eine Richterin intensiv an der Entscheidung; Termine und Urlaube wurden abgesagt.

Wer diesen Aufwand als Indiz dafür wertet, am Ende werde der Rettungsschirm in Karlsruhe gestoppt, der hat die Doppelstrategie des Gerichts missverstanden. Es geht nicht darum, eine eminent politische Entscheidung rückgängig zu machen. Sondern darum, den Fuß in der Tür zu haben.

Das Gericht lässt sich nicht aussperren aus dem Raum, in dem die Politik herrscht. Schon, weil Politik und Verfassung sowieso nicht sauber zu trennen sind. Aber das Gericht besetzt diesen Raum nicht, es achtet das Terrain der Politik, meistens jedenfalls.

Das Gericht will in Europa mitspielen

Gewiss, die Richter verwerfen mit großem Aplomb Gesetze, wie kürzlich beim Wahlrecht oder bei den Leistungen für Asylbewerber. Aber da bewegen sie sich auf ureigenem Gebiet: Dort geht es um Grundfragen der Verfassung - Menschenwürde, Demokratieprinzip -, nicht um politische "Schicksalsfragen der Nation".

Vor echten politischen Entscheidungen zucken die Richter schon deshalb zurück, um sich nicht einer gefährlichen Infektionsgefahr auszusetzen. Die Autorität des Gerichts fußt auf seiner Akzeptanz - die es nicht unnötig aufs Spiel setzen wird, indem es dort hinabsteigt, wo der Ruf noch bei jedem gelitten hat, in die Politik.

Von Beginn an verlief die Europa-Rechtsprechung des Gerichts nach diesem Schema. In den beiden "Solange"-Urteilen von 1974 und 1986 hält sich das Verfassungsgericht im Spiel, ohne letztlich mit dem europäischen Integrationskurs zu kollidieren. "Solange" der Europäische Gerichtshof einen wirksamen Grundrechtsschutz gewähre, halte sich das Gericht zurück, lautet die Botschaft.

"Strategie der Selbstermächtigung"

1993, im Urteil zum Vertrag von Maastricht, stellte das Gericht wieder den Fuß in die Tür, und zwar mit einer kühnen Konstruktion. Es blähte das im Grundgesetz garantierte Wahlrecht der Bürger zu einer Art Demokratie-Verteidigungsnorm auf und schuf damit eine Universal-Klagebefugnis gegen EU-Angelegenheiten. Womit die Kontrollkompetenz in Karlsruhe lag, auch gegen Rechtsakte der EU. 2009, im Lissabon-Urteil, setzten die Richter noch eins drauf: Sie brachten den europafesten "unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes" ins Spiel, über den - wer sonst - das Bundesverfassungsgericht wacht. Eine "Strategie der Selbstermächtigung", schrieb der Staatsrechtler Oliver Lepsius. Damit konnte kein Zweifel aufkommen: Das Bundesverfassungsgericht spielt mit in der europäischen Arena.

Doch was folgte daraus? 1998 winkte Karlsruhe müde den Euro durch. Als 2010 im Mangold-Verfahren die Stunde gekommen schien, Schranken gegen europäische Kompetenzanmaßungen aufzustellen, zog sich das Gericht auf die Feuerwehr-Rolle zurück: Für Notfalleinsätze steht es bereit, aber sonst sei das doch eher Sache des Europäischen Gerichtshofs.

Und den vorläufigen Rettungsschirm? Ließ man vergangenes Jahr ebenfalls passieren. Will das Verfassungsgericht also nur spielen? Damit würde man seine komplexen Wirkungsmöglichkeiten unterschätzen. Zum einen hat das Gericht in EU-Fragen einen anderen politischen Player aufgerüstet, mit höherer Legitimation als Bewahrer der Demokratie gegen europäische Erosionsprozesse aufzutreten: den Deutschen Bundestag. Seine Beteiligungsrechte sind nachhaltig ausgebaut worden.

Stoppen wird das Gericht den Rettungsschirm nicht

Vor allem aber setzt das Gericht auf einen institutionellen Diskurs - darin setzt es sich vielleicht am deutlichsten von der herkömmlichen Justiz ab. Mit seinen Urteilen hat es ein großes Thema der europäischen Integration auf der politischen Agenda platziert: dass bei der Abwanderung der Macht nach Europa die Demokratie nicht auf der Strecke bleiben darf.

Man mag dem Gericht dabei eine allzu nationale Perspektive vorhalten - jedenfalls hat seine Kommunikationsstrategie Erfolg. Im Lissabon-Urteil hatte der Zweite Senat deutlich gemacht, vor einer Auflösung Deutschlands in einem europäischen Bundesstaat müsse das Volk gefragt werden. Zuerst hat das Gericht dafür viel Prügel einstecken müssen. Doch in den vergangenen Wochen hat dieses Thema die politische Mitte erreicht: Wolfgang Schäuble, Norbert Lammert und Peer Steinbrück reden neuerdings von einer Volksabstimmung.

Wenn das Bundesverfassungsgericht sich treu bleibt, dann ist am 12. September also ungefähr Folgendes zu erwarten: Der Zweite Senat wird noch einmal die Grenzen des Haushaltsrechts für Haftungszusagen präzisieren. Er wird den Rettungsschirm und den Fiskalpakt interpretatorisch zurechtstutzen. Vielleicht wird er eine Befristung der Rettungsmaßnahmen andeuten. Aber stoppen wird das Gericht den Rettungsschirm nicht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: