Wer sich in diesen Wochen mit deutschen Verfassungsrichtern unterhält, der hat es leicht, ein düsteres Thema zu finden. Ein paar Stichworte genügen, wie das eben so ist in schlechten Zeiten: Polen! Ungarn! Türkei! Gut, man kann einfach "Trump" sagen, auch das reicht, um liberale Geister in eine apokalyptische Stimmung zu versetzen. Aber was in der Türkei, in Ungarn und ganz aktuell in Polen geschieht, trifft die Verfassungshüter härter und direkter.
Erstens ganz persönlich, denn viele Richter unterhalten Beziehungen zu ausländischen Kollegen, denen gerade das Gehalt gestrichen oder die Wohnung geräumt worden ist - von der drohenden oder bereits vollzogenen beruflichen Entmachtung gar nicht zu reden. Zweitens aber löst sich nun, da Verfassungsgerichte vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit zertrümmert werden, eine große Hoffnung in nichts auf: dass die Rechtsstaatlichkeit - mühsam, aber stetig - immer weiter vorankommen würde.
In Polen etwa steuert das epische Drama in diesen Tagen auf einen Höhe- oder besser Tiefpunkt zu. An diesem Montag endet die Amtszeit des Gerichtspräsidenten Andrzej Rzepliński, der sein Gericht wie ein Löwe gegen die Regierungspartei mit dem höhnisch klingenden Namen "Recht und Gerechtigkeit" verteidigt hat. Mit seiner Pensionierung fällt der erste Turm, die feindliche Übernahme des Gerichts schreitet voran. Die Regierung versucht, den Rechtsbruch hinter einer klapprigen rechtsstaatlichen Fassade aus Verfahrensregeln und Wahlmodi zu verbergen, aber am kühlen Plan ändert es nichts: Ein echtes Verfassungsgericht mit unabhängigen Richtern wird es in Warschau vermutlich bald nicht mehr geben.
Und das ist beileibe kein isoliertes Phänomen. In Russland etwa gaben die Urteile des Verfassungsgerichts vor nicht allzu langer Zeit noch Anlass zu Hoffnung - doch damit ist es inzwischen vorbei. Auch anderswo, wie etwa in Rumänien, gerieten die obersten Gerichtshöfe unter Druck. "Der Angriff auf den Rechtsstaat beginnt mit einem Angriff auf das Verfassungsgericht", diagnostizierte Viviane Reding, Ex-Vizepräsidentin der EU-Kommission.
Doch die Karlsruher Ängste sitzen sehr viel tiefer. Die Wucht, aber auch die Leichtigkeit, mit der die Zentralen des Rechts geschleift werden, offenbaren, wie fragil die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Sie hat dem Machtwillen von Autokraten wenig entgegenzusetzen. Das hat damit zu tun, dass Populisten wie Kaczyński oder Orbán mit einem so kruden wie effektiven Demokratieverständnis operieren. Es beschränkt sich auf die Aussage "Mehrheit ist Mehrheit".
Dieser Satz ist das schleichende Gift, das sich mit dem Rechtspopulismus in Europa verbreitet: eine Lesart von Demokratie, in der sich alles dem Willen der Mehrheit zu beugen habe. Es ist ein bizarr ahistorisches Demokratieverständnis, weil es ignoriert, zu welch monströsen Irrtümern Mehrheiten fähig sind - wo wüsste man das besser als in Deutschland? Wer glaubt, Mehrheiten dürften alles, der hat nicht verstanden, wozu Verfassungsgerichte geschaffen wurden: Als Garant der Spielregeln im politischen Prozess, als Hüter der Grundrechte, als Verteidiger von Minderheiten. Eine Demokratie funktioniert nicht ohne Presse- und Versammlungsfreiheit, nicht ohne Oppositionsrechte, nicht ohne den Schutz der Schwachen. Doch wo Illiberalität zur Mehrheitsideologie wird, stehen Verfassungsgerichte fast wehrlos mit dem Rücken an der Wand.
Die Macht der Karlsruher Richter ist in Wahrheit die Macht der 80 Millionen
Kann Polen, kann Ungarn ein Menetekel sein, womöglich gar für Deutschland? Wer in der Glückseligkeit der Bundesrepublik aufgewachsen ist, wird das für einen aberwitzigen Gedanken halten. Das Bundesverfassungsgericht hat die liberale Demokratie mit aufgebaut, es hat weltweite Strahlkraft entwickelt - und seine Vertrauenswerte in der Bevölkerung lassen Politiker vor Neid gelb werden. Das Verfassungsgericht, so meint man, ist die uneinnehmbare Burg des Rechtsstaats.
Die Wahrheit lautet: Das Bundesverfassungsgericht ist stark, solange es das Vertrauen der Bürger genießt. Es hat nur Einfluss, solange es die Menschen davon überzeugen kann, dass Recht über Macht stehen muss. Ohnehin sind die schwindelerregenden Zustimmungswerte kaum allein der Begeisterung über die Karlsruher Rechtsprechung geschuldet; ganz sicher spiegelt sich darin auch die allgemeine Sehnsucht nach einer vertrauenswürdigen Institution.
Jedenfalls hat das Vertrauen eine dunkle Kehrseite: Wenn es wegbricht, dann zerfällt die Karlsruher Autorität. Das Gericht ist keine Burg, es ist nicht von Mauern umgeben; es sind allein seine Bürger, die es schützen. Denn das Bundesverfassungsgericht unterhält keine Truppen, es hat keinen Gerichtsvollzieher, den es losschicken könnte. Man konnte das immer wieder bei Urteilen beobachten, die der Politik missfallen haben, etwa zum Wahlrecht oder zur Erbschaftsteuer; die Politik missachtet Umsetzungsfristen, wenn es ihr passt - Karlsruhe kann nur mahnend den Finger heben.
Wer diesen Zusammenhang begriffen hat, kann sich leicht Szenarien ausmalen, in denen es eng wird für das Gericht. Eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der Islamfeindlichkeit an Boden gewinnt; eine politische Situation, in der Populisten etablierte Parteien vor sich hertreiben; und ein Bundesverfassungsgericht, das sich mit irgendeinem Burka- oder Minarett-Urteil gegen den populistischen Zeitgeist stellt. Unvorstellbar, dass das Vertrauen wie ein Kartenhaus zusammenfällt? Kaum möglich, dass sich die Politik gegen Karlsruhe stellt? Wer sich noch an den Sturm der Entrüstung erinnert, den der Kruzifix-Beschluss in den 90er-Jahren ausgelöst hat, der wird das anders sehen.
Nein, noch ist Polen kein Menetekel. Aber die Verhältnisse zwingen dazu, vermeintliche Gewissheiten zu überdenken. Institutionen haben keine Ewigkeitsgarantie, so unverrückbar sie auch scheinen mögen. Sie müssen von einer politischen Kultur getragen werden - oder sie geraten in Gefahr. In Karlsruhe, in der zwei achtköpfige Senate Recht sprechen, gilt das Wort von der "Macht der acht". In Wahrheit ist es die Macht der 80 Millionen.