Vereinigtes Königreich:Verfrühter Wahlkampf

Schottlands Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon kündigt ein neues Unabhängigkeitsreferendum an. Damit treibt sie den britischen Premier Boris Johnson ein weiteres Mal vor sich her - wie zuletzt schon in der Corona-Politik.

Von Alexander Mühlauer, London

In Schottland wird zwar erst im kommenden Frühjahr gewählt, aber Nicola Sturgeon ist schon jetzt im Wahlkampfmodus. Die schottische Ministerpräsidentin kündigte am Dienstag an, noch vor der Parlamentswahl im Mai ein neues Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg zu bringen. Sie werde bis dahin einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem die Bedingungen, der zeitliche Ablauf und die genaue Fragestellung für eine Volksabstimmung über einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich formuliert würden. Schottlands First Minister erhöhte damit den Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson, der ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum strikt ablehnt.

Sturgeons Vorstoß ist einerseits Symbolpolitik, weil die Frage, ob Schottland überhaupt eine solche Volksabstimmung abhalten darf, vom britischen Parlament in London entschieden werden müsste - und dort verfügt Johnsons Konservative Partei über eine komfortable Mehrheit. Andererseits kann der Premierminister das Manöver aus Edinburgh auch nicht als unrealistische Träumerei abtun. Denn je höher der mutmaßliche Wahlsieg von Sturgeons Scottish National Party (SNP) ausfallen sollte, desto stärker könnte sie Johnson unter Druck setzen, ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum zu gestatten.

Im Jahr 2014 hatten die Schotten mit 55 zu 45 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Doch mittlerweile ist Umfragen zufolge eine Mehrheit für den Austritt. Als Hauptgrund für den Abspaltungswunsch gilt der Brexit. Beim Referendum über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hatten die Schotten mehrheitlich dagegen gestimmt. Sturgeon hat sich seitdem als scharfe Kritikerin von Johnsons Brexit-Kurs positioniert und weiß damit die Mehrheit der Schotten auf ihrer Seite. Sie lässt jedenfalls keine Gelegenheit aus, Johnson als zaudernden und überforderten Premier darzustellen. Sturgeon selbst inszeniert sich derweil als Freundin der EU. Noch im Februar war sie in Brüssel und erklärte, dass sie sich schon jetzt auf den Tag freue, wenn ein unabhängiges Schottland EU-Mitglied werde.

Seit Ausbruch der Corona-Krise hat Sturgeons Popularität nicht groß gelitten - ganz im Gegensatz zu Johnsons. Das liegt auch daran, dass die Schottin den Premierminister geschickt vor sich her treibt. Immer wieder fasste sie Entscheidungen, die Johnson nur noch nachahmen konnte. Zuletzt ging es etwa um die Frage, ob ältere Schülerinnen und Schüler eine Mund- und Nasenbeckung tragen müssen. Nachdem Sturgeon angekündigt hatte, dass es in Schottland eine solche Pflicht geben werde, wenn auch nicht in den Klassenzimmern, erklärte die Regierung in London, dass es in England nicht dazu kommen werde. Nur einen Tag später folgte die Kehrtwende: England tat es Schottland gleich.

Dem Vernehmen nach wollte Johnson nicht als derjenige dastehen, der sich weniger um die Sicherheit in den Schulen kümmert als seine schottische Kontrahentin. Der Premierminister sah jedenfalls alles andere als gut aus: Einmal mehr stand er in der Corona-Krise als Getriebener da - als einer, der sich von Sturgeon den Kurs diktieren lässt.

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