Vereinigte Staaten:Die Korrekturen

Noch nie zuvor sind die Einkommen der amerikanischen Mittelschicht so stark angestiegen wie im Jahr 2015. Doch ein Blick auf die absoluten Zahlen bremst den Jubel.

Von Claus Hulverscheidt

Zu den Gründungsmythen der USA zählt der feste Glaube daran, dass es in diesem Land jeder nach oben schaffen kann. Unzählige Bücher und Filme sind darüber erschienen, manche schmerzhaft einfältig, andere brillant wie Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden", in dem sich der sinnbildliche Durchschnittsbürger lieber für den Freitod entscheidet als einzuräumen, das der amerikanische Traum für viele nur ein Traum bleiben wird.

Man muss sich dieses Glaubens erinnern, um die Depression zu verstehen, die Teile des Landes ergriffen hat und Präsidentschaftsbewerber wie Donald Trump gebiert. Seit mehr als 30 Jahren tritt die Mittelschicht wirtschaftlich auf der Stelle, während die Börsenkurse explodieren und Reiche immer reicher werden. Es ist der Boden, der Rattenfänger nährt.

Mitten in diese Stimmung schlägt nun eine Nachricht ein, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Wegen der guten Lage am Arbeitsmarkt, so heißt es im Jahresbericht des Statistikamts, ist das mittlere Einkommen der Amerikaner 2015 um 5,2 Prozent oder 2800 Dollar gewachsen - das stärkste Plus seit Beginn der Erhebung im Jahr 1967. Ein Haushalt kommt damit im Mittel auf 56 500 Dollar. Mehr noch: Die kräftigen Zuwächse ziehen sich durch alle Altersgruppen, Ethnien und Geschlechter, erstmals seit Langem sind sie zudem am unteren Ende der Einkommensskala höher als am oberen. Die Zahl der Armen sinkt um dreieinhalb, die der Menschen ohne Krankenversicherung gar um vier Millionen. Das Gehaltsgefälle zwischen Männern und Frauen ist geringer, die Zahl der Bürger mit festem Vollzeitjob höher als je zuvor. Er neige ja nicht zum Jubeln, sagte Jason Furman, Chefwirtschaftsberater von Präsident Barack Obama, "aber das ist zweifellos der beste Einkommensbericht aller Zeiten."

Was also? Ist das Gerede über den Abstieg der amerikanischen Mittelklasse womöglich nur ein Hirngespinst, ein gigantischer, von Populisten inszenierter Bluff? Gibt es das Amerika im Niedergang, jene brodelnd trübe Frustbrühe, die einen Donald Trump bis vor die Tore des Weißen Hauses gespült hat, am Ende gar nicht?

Antwort erhält, wer sich in dem Bericht neben den Veränderungsraten auch die absoluten Zahlen anschaut. Sie nämlich sprechen, darauf weist etwa der keineswegs Trump-freundliche Ökonom Justin Wolfers hin, eine sehr viel differenziertere Sprache. So liegt das mittlere Einkommen trotz des hohen Zuwachses preisbereinigt immer noch leicht unter dem Vorkrisenniveau von 2007. Immer noch leben 43 Millionen Menschen in Armut und 29 Millionen ohne Gesundheitsschutz. Viele Bürger haben neue, aber schlechter bezahlte Jobs. Frauen verdienen nach wie vor nur vier Fünftel der Männergehälter, Schwarze keine drei Fünftel dessen, was Weiße nach Hause tragen. Statt "die Lage wird besser", so Wolfers, könnte man also auch sagen: "Die Lage war schlecht, jetzt ist sie ein bisschen weniger schlecht."

Es wird also nicht dazu kommen, dass Trump seine Kandidatur beschämt widerruft - im Gegenteil: Es sei Zeit, mit Obamas verfehlter Wirtschaftspolitik zu brechen, ereiferte sich der republikanische Bewerber, das Maß an Armut im Land sei "unfassbar" - ganz so, als habe seine Partei über die Jahrzehnte nicht gehörig dazu beigetragen.

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