Süddeutsche Zeitung

Verdi:Leise und gewollt sachlich

In Leipzig wird deutlich, dass mit dem neuen Gewerkschaftschef Frank Werneke auch eine neue Rhetorik Einzug hält. Inhaltlich liegt er aber auf einer Linie mit seinem Vorgänger.

Von Detlef Esslinger, Leipzig

Typen. Verscheißern. Strunzdumm. Das ist eine Ausdrucksweise, die sie lieben in dieser Gewerkschaft. Frank Bsirske hat immer gewusst, dass und wann er so reden muss - diesmal, bei seiner letzten großen Rede, in der Passage, in der es um die AfD ging. Er rief, der Saal johlte, er hätte in dem Moment "Zu den Waffen!" kommandieren können, und die Leute wären bestimmt losmarschiert, bis Thüringen in Höckes Dorf, mindestens. Ist das nun gut oder schlecht, dass sein Nachfolger in der Hinsicht ganz anders ist?

Ein Führungswechsel ist etwas, das die Gewerkschaft Verdi zum ersten Mal erlebt. Nach 18 Jahren ist Frank Bsirske, 67, abgetreten, und sein langjähriger Stellvertreter Frank Werneke, 52, hat übernommen. Einen Wechsel bei den Zielen braucht niemand zu erwarten. Was Bsirske in seiner Abschiedsrede am Montag und Werneke in seiner Antrittsrede am Mittwoch sagte - da war sozusagen ein Frank wie der andere. Beide riefen die eigenen Funktionäre auf, mehr Mitglieder zu werben. Beide verlangten vom Staat, mehr Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären. Beide forderten, eine Grundrente zu gewähren, ohne dass die Bedürftigkeit geprüft wird. Beide bedienten sie das Bedürfnis der Delegierten, die AfD rhetorisch in die Ecke zu stellen, obwohl das vor allem zehn Sekunden Wohlgefühl bringt. Keiner von beiden hat, auch 16 Jahre später nicht, seinen Frieden mit der Agenda 2010 gemacht. Zwar pries Frank Bsirske am Sonntagabend Schröders damaligen Kanzleramtsminister dafür, dass er soeben, auf dem Kongress, eine "programmatische" Rede gehalten hat, mit allem, was Gewerkschaften an Grundsätzlichem hören möchten. Aber Frank-Walter Steinmeier war ja wegen der Tätigkeit willkommen, die er jetzt versieht; nicht wegen der von früher.

Der sichtbare Unterschied liegt im Stil. Werneke kürzte seine Antrittsrede von zwei Stunden auf 75 Minuten herunter. Bsirske zog zum Abschied seine zwei Stunden durch. Bsirske hatte nie ein Problem, den Eindruck zu erwecken, dass er sich von seinem Temperament treiben lässt, im Gegenteil. In Wahrheit war natürlich alles geplant. Den Satz über drei AfD-Politiker ("Typen wie Kalbitz, Höcke, Hilse glauben, sie könnten die Leute verscheißern"), rief er nicht nur; der stand genau so im Manuskript. Werneke hingegen wird bei Worten, die er betonen will, extra leise. Jeder fünfte Beschäftigte müsse für einen Niedriglohn arbeiten, sagte er am Mittwoch. Den Satz darauf aber hätte Bsirske wahrscheinlich gerufen (und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann garantiert gebrüllt); Werneke hingegen machte lieber eine Kunstpause und sagte dann gewollt sachlich: "Und das ist eine Schande für dieses Land."

Natürlich stellt sich mancher im Saal die Frage: Kann der denn auch seinen neuen Job?

Die Delegierten - bei einem Verdi-Kongress ausschließlich ehrenamtliche Gewerkschafter - begegnen ihrem neuen Anführer mit einer Mischung aus Wohlwollen und Erwartung. "Wir haben die Probleme schon sehr lange", sagte am Mittwoch einer, nach Wernekes Antrittsrede, "deswegen, lieber Frank, habe ich eine Bitte. Ich hoffe, dass vieles von dem, was du uns vorhin dargebracht hast, dann auch in der Realität erfolgen wird." Als derjenige Vorstand, der bislang für die Finanzen der Gewerkschaft zuständig war, trat er nach außen relativ wenig in Erscheinung - was gut ist. Mit Finanzvorständen verhält es sich wie mit Schiedsrichtern im Fußball: Wird über sie geredet, dann meistens nicht zu ihrem Vorteil. Trotzdem ist da aber natürlich auch die Frage: Kann der denn hoffentlich auch seinen neuen Job? Vermutlich weil Werneke weiß, dass zunächst er es ist, der liefern muss, verzichtete er darauf, seine Leute zu belehren und zu ermahnen. Das übernahmen in Leipzig Bsirske und dessen Vorstandskollege Wolfgang Pieper, der ebenfalls nun in Rente geht. Mit der Gelassenheit von Leuten, die kein Wahlergebnis mehr brauchen, nicht einmal ein schlechtes, rieben sie den Delegierten zwei Geschichten hin.

Pieper tat das, als er sich gegen den Vorwurf von zwei Sozialarbeiterinnen verteidigen musste. Die beklagten, dass 2015, nach dem großen Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, für die Erzieherinnen viel mehr herausgesprungen war als für die Sozialarbeiter. "Viele Kolleginnen haben gesagt: Mit Verdi will ich erst mal nix zu tun haben", gab eine von ihnen an. Pieper, der den Tarifvertrag verhandelt hatte, antwortete, dass damals die Streikfront bröckelte - und dass überhaupt nur sehr wenig Sozialarbeiter die Arbeit niederlegten. "Wir hatten Bundesländer, in denen war nicht ein Sozialarbeiter bereit zu streiken."

Und Bsirske steuerte das Erlebnis bei, wie er einmal bei einem Stadtwerke-Betrieb verabredet war. Er wollte die Azubis besuchen; Mitgliederwerbung. Die Betriebsräte begrüßten ihn, "alle total nett", sagte er. Dann führten sie ihn in die Werkstatt. Und, was war? Kein einziger Azubi da. Es war der Berufsschultag. Hätte man wissen können. Mit anderen Worten: Es hängt zwar manches vom Vorsitzenden ab. "An meinen Worten will ich mich messen lassen", versicherte am Mittwoch Werneke, der Nachfolger. Aber damit das auch alles in der Realität erfolgen wird, wie der eine Delegierte sich ausdrückte, kommt es womöglich auch auf ihn selbst, die Betriebsräte und die Sozialarbeiter an.

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SZ vom 26.09.2019
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