Christoph Schminck-Gustavus, Jahrgang 1942, war Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Bremen. Mehrere Jahre recherchierte er zu Kriegsverbrechen, die deutsche Gebirgsjäger während des Zweiten Weltkrieges in Griechenland verübt haben. Neben der Vernichtung der Juden von Saloniki und anderer Untaten haben die Besatzer für Partisanenangriffe unzählige wehrlose Zivilisten ermordet. So massakrierten Mittenwalder Gebirgsjäger am 3. Oktober 1943 die Bevölkerung des Dorfes Lyngiádes (auch Lingiades). Dort gedachte Bundespräsident Joachim Gauck 2014 der Opfer.
Schminck-Gustavus hat dieses Verbrechen der Wehrmacht in einem Buch dokumentiert. Es trägt den Titel: Feuerrauch. Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiádes am 3. Oktober 1943. Dietz, Bonn 2013, ISBN 978-3-8012-0444-0.
SZ: Herr Schminck-Gustavus, wie sind Sie vor mehr als 25 Jahren auf den Fall Lyngiades gekommen?
Schminck-Gustavus: Durch Zufall. Einem griechischen Studenten habe ich damals geholfen, weil er sich mit dem Deutschen schwertat. Zum Dank hat er mich in sein Dorf eingeladen. So kam ich zum ersten Mal nach Griechenland und wurde mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Weil ich mehr erfahren und mir von Zeitzeugen berichten lassen wollte, bin ich nach Griechenland zurückgekehrt. So stieß ich auf Lyngiades.
Warum zerstörten die Deutschen das Dorf und ermordeten seine Bewohner?
Es war eine sogenannte Sühnemaßnahme. Zuvor war der Regimentskommandeur Josef Salminger (hier mehr zur Person) mit seinem Fahrer in einen Hinterhalt der Partisanen geraten und getötet worden. Der kommandierende General Hubert Lanz (hier mehr zur Person) befahl, dass dieser "ruchlose Banditenmord" eine "schonungslose Vergeltung" erforderlich mache.
Weshalb wählte die Wehrmacht Lyngiades zum Ziel?
Das lag wohl daran, dass das Dorf oberhalb der Provinzhauptstadt Ioannina liegt. Die schwarzen Rauchwolken des brennenden Dorfes waren noch in 30 bis 40 Kilometer Entfernung zu sehen. Es war ein Menetekel, ein Mahnmal. Außerdem hatten die Deutschen mit dem Fernglas beobachtet, wie die Einwohner Dinge auf Tragtieren transportierten.
Handelte es sich um Fracht für Partisanen?
Das ist nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich. Es gab keine Straßen nach Lyngiades. Alles musste mit Maultieren und Eseln transportiert werden: Lebensmittel, die Ernte, selbst das Wasser, denn es gab keinen Wasseranschluss und keine Quelle dort. Für die Deutschen stand auf jeden Fall fest: Das Dorf ist ein "Partisanennest".
Was ist am 3. Oktober 1943 in Lyngiades passiert?
Gebirgsjäger aus Mittenwald stiegen den Berg hinauf zum Dorf, möglicherweise mehr als einhundert. Keiner der Einwohner von Lyngiades rechnete damit, dass die Deutschen Zivilisten massakrieren würden. Die Männer fürchteten aber, zur Zwangsarbeit herangezogen zu werden. Deshalb flüchteten sie. Die Deutschen trieben auf dem Dorfplatz alle zusammen, die sie finden konnten, teilweise schlugen sie mit dem Gewehrkolben zu: Frauen, Greise, Behinderte, Kinder, standen vor den Deutschen. Dann wurden sie in Grüppchen von zehn, zwölf Leuten abgeführt. Zuerst wurden die Männer in Keller gebracht, wo sie erschossen wurden. Danach kamen die Frauen und Kinder dran. Anschließend plünderten die Deutschen das Dorf und zündeten es an. Fünf Menschen überlebten nur deshalb, weil sie leicht oder unverletzt unter den Leichen ihrer Kinder, Eltern und Nachbarn lagen und sich tot stellten.
Wie viele von den Überlebenden konnten sie sprechen?
Ich habe alle fünf Überlebenden des Massakers gefunden und befragt. Einer, Panajotis Babousikas, war damals noch ein Säugling und hatte natürlich keine eigenen Erinnerungen. Aber während unseres Gesprächs drehte er sich um und zog sein T-Shirt hoch. Da war deutlich eine 30 bis 40 Zentimeter lange Narbe zu erkennen. Ein Deutscher hatte versucht, dieses Baby mit einem Bajonettstich ins Jenseits zu befördern. Eine Vierzehnjährige überlebte nur, weil die Kugel sie nur gestreift hatte. Völlig verschmiert vom eigenen Blut und dem ihrer getöteten Angehörigen war sie aus dem Leichenhaufen herausgekrochen. Das sind grausame Geschichten, die man nicht für möglich hält.
Zum Zeitpunkt Ihrer Recherchen 1989 lag das Dorf weitgehend in Trümmern. Wie sieht Lyngiades heute aus?
Es ist wieder aufgebaut worden. Aber nicht etwa, weil Deutschland die Einwohner entschädigt hätte. Sondern weil die Nachkommen der Opfer den Aufbau geleistet haben.
Wann waren Sie zuletzt dort?
Vor Mitte Februar. Damals fuhren schwarze Mercedes-Limousinen vor, begleitet von griechischer Sicherheitspolizei. Einige Herren in dunklen Anzügen und junge Frauen stiegen aus auf dem Platz, auf dem die Wehrmacht die Einwohner vor dem Massenmord zusammengetrieben hatte. Sie guckten herum und fotografierten alles. Es waren Abgesandte der deutschen Botschaft, die offenbar die Sicherheitslage vor dem Gauck-Besuch prüfen wollten. Da fragt man sich, ob wirklich 70 Jahre vergehen mussten, bis ein Vertreter Deutschlands hier erscheint, um sich vor dem Mahnmal der unschuldigen Opfer zu verneigen.
Musste sich je ein deutscher Soldat für das Massaker von Lyngiades vor Gericht verantworten?
Nein kein Tatbeteiligter ist jemals vor Gericht gestellt worden. Der Offizier, der die Aktion leitete, lebte noch lange, hat es aber gegenüber dem Historiker Frank Meyer abgelehnt, sich zu Lyngiades zu äußern. Immerhin schrieb ein deutscher Sanitätssoldat 1947 einen Brief nach Lyngiades, in dem er in reuevollem Ton davon berichtete, vom Tal aus die Vernichtung des Dorfes beobachtet zu haben. Bei dem Mann namens Felix Bourier handelt es sich wohl um einen positiven Einzelfall. Sein Brief wird noch heute in Lyngiades aufbewahrt.
Weitere SZ-Texte über Verbrechen der deutschen Wehrmacht:
- Als die Menschen Leim und Ratten aßen - Text über die Belagerung Leningrads, während der mehr als eine Million Sowjetbürger umkamen.
- Erpressung, Mord und nie ein Wort der Entschuldigung: Text von Christiane Schlötzer über die Deportation der Juden von Saloniki und den Gauck-Besuch in Griechenland.
- "Die Institution Wehrmacht war an allen Verbrechen beteiligt": Interview mit dem Historiker Christian Hartmann über Hitlers Vernichtungskrieg im Osten.
- Wie Feldwebel Schmid den Nazi-Wahn störte: Bücher über den NS-Widerstand in der Wehrmacht, besprochen von Hermann Theissen.