Venezuela:"Wir haben Hunger!"

Demonstrations against the lack of basic food products

In der Hauptstadt Caracas gehen Menschen gegen den Mangel an Nahrungsmitteln auf die Straße.

(Foto: dpa)

Die notleidende Bevölkerung von Venezuela verliert die Geduld. Doch Präsident Maduro klammert sich ans Amt. Hilfe erhofft er sich nun ausgerechnet von einem alten Feind.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

"In Venezuela gibt es keinen Hunger." Dieser Satz gehört zum Standardrepertoire von Nicolás Maduro und es ist noch kein Jahr her, da sprach der bereits schwer angezählte Staatspräsident im Fernsehen davon, dass der Fleischkonsum in seinem Land "weltweit Rekorde" breche. Wie viel Realitätssinn soll man erwarten von einem Mann, der glaubt, über ein Vögelchen mit seinem verstorbenen Vorgänger Hugo Chávez zu kommunizieren?

Die Wahrheit ist: Viele Venezolaner haben nicht mehr ausreichend zu essen. Im Land mit den weltweit größten Erdölreserven gehen die Nahrungsmittel aus. Die Schlangen vor den Supermärkten sind längst zur Normalität geworden, der tägliche Kampf um Mehl, Öl, Zucker, Milch, Medikamente oder Windeln bestimmt das Leben in großen Teilen des sozialistischen Krisenstaates. Und zuletzt hat sich die ohnehin angespannte Lage noch einmal dramatisch verschärft. Jeden Tag werden Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte geplündert, Straßensperren errichtet, Demonstranten verhaftet - auch in Gegenden, die als Hochburgen der Sozialisten galten. Das bislang erstaunlich nachsichtige Volk scheint die Geduld mit seinem weltfremden Regime zu verlieren. Das könnte auch an den knurrenden Mägen liegen.

Bei einer Kundgebung in einem Armenviertel von Caracas wurde explizit skandiert: "Wir haben Hunger!". Auch aus anderen Städten gibt es Berichte von Hungerprotesten. Die Nationalgarde geht zum Teil mit brutalen Methoden gegen die Regierungsgegner vor. Es gibt Tote und Verletzte. Am Mittwoch starb ein 17-Jähriger in Mérida, dem am Rande einer Demonstration in den Kopf geschossen worden war.

Nach offizieller Lesart verursacht ein imperialistischer Wirschaftskrieg die Krise

Angesichts der offensichtlichen Versorgungsnotlage hatte Maduro Anfang des Jahres eingeräumt, dass sein Land eine "neue Kultur der Produktion" benötige. Er selbst gehe da mit bestem Beispiel voran. Nach eigenen Angaben hält sich die Präsidentenfamilie zu Hause 50 Hühner, die zuverlässig Eier legen. Aus seiner Idee der urbanen Selbstversorgerkultur für 31 Millionen Venezolaner, die größtenteils in Städten leben, ist bislang aber nichts geworden. Die heimische Agrar- und Lebensmittelindustrie hatte schon Chávez nach und nach runtergewirtschaftet. Sein Nachfolger setzt diese Politik konsequent fort. Außer Erdöl wird in Venezuela praktisch nichts mehr produziert. Weltrekordverdächtig ist allenfalls die Inflation. Weil das Land hoch verschuldet ist, musste Maduro zuletzt auch die Importe von Grundnahrungsmitteln drastisch zurückfahren. Den Rest besorgte eine extreme Dürreperiode. Seither sind auch das Wasser und der größtenteils aus Wasserkraft erzeugte Strom knapp. Der Präsident hatte deshalb vor einigen Wochen eine Zwei-Tage-Arbeitswoche eingeführt, um Energie zu sparen. Die hat er nun wieder abgeschafft. Offenbar ist es ihm doch lieber, wenn die Leute arbeiten gehen - und nicht demonstrieren.

Hinter dem, was Maduro als eine "schwierige Phase" bezeichnet, steckt nach offizieller Lesart ein imperialistischer Wirtschaftskrieg, der in den USA choreografiert wird. Umso erstaunlicher wirkt auf den ersten Blick Maduros jüngstes Projekt: eine Charmeoffensive in Richtung Washington. Er strebe eine "neue Etappe des Dialogs mit den USA" an, teilte er mit. Auch trete er dafür ein, dass beide Länder wieder gegenseitige Botschafter einsetzten. Die wurden 2008 auf Initiative von Chávez abgezogen. Am Dienstag traf sich US-Außenminister John Kerry mit seiner venezolanischen Kollegin Delcy Rodriguez für einen ersten vorsichtigen Handshake.

Auf den zweiten Blick ist diese diplomatische Kehrtwende aber nur noch halb so überraschend. Sie folgt dem Vorbild der kubanischen Entspannungspolitik: Wenn der Sozialismus nicht mehr weiterweiß, klammert er sich ganz pragmatisch an den Dollar. Maduro hat ja nicht nur zunehmend sein eigenes Volk gegen sich, er hat durch die Regierungswechsel in Argentinien und Brasilien zuletzt auch einflussreiche Freunde verloren. Entgegen aller Regierungspropaganda waren die USA stets der größte zahlende Abnehmer für venezolanisches Öl. Vor diesen Hintergrund erscheint der Flirt mit dem Klassenfeind fast schon unausweichlich.

Die Regierung Obama wiederum hat in Kuba gelernt, dass sie im Dialog mehr Einfluss ausüben kann als mit Abschottung. Spannend ist, ob die Einflussnahme schon reicht, um das von Venezuelas Opposition auf den Weg gebrachte Abwahlreferendum gegen Maduro rechtzeitig durchzuführen. Der Präsident hat dem grundsätzlich zugestimmt, allerdings erst für einen Termin im kommenden Jahr. So lange wird Maduro versuchen durchzuhalten. Falls er nach dem 10. Januar 2017 abgewählt wird, dann rückt laut Verfassung automatisch sein Vizepräsident Aristóbulo Istúriz nach.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: