Venezuela:Die Parallelwelt des Herrn Maduro

Venezuela: Tränengas und Wurfgeschosse: Als sich die Polizei den Demonstranten entgegestellte, schlugen die Proteste gegen Präsident Maduro in Gewalt um.

Tränengas und Wurfgeschosse: Als sich die Polizei den Demonstranten entgegestellte, schlugen die Proteste gegen Präsident Maduro in Gewalt um.

(Foto: Juan Barreto/AFP)

Auf den Straßen sterben Demonstranten und Polizisten, doch Venezuelas Präsident spricht von Frieden. Offenbar will er das Volk durch eine Eskalation der Gewalt von Protesten gegen seine Misswirtschaft abhalten.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Der Staatspräsident sprach am Mittwochabend zu seinen Anhängern, und was er mitzuteilen hatte, stimmte sogar ausnahmsweise. Zumindest im ersten Satz: "Heute war ein Tag des Volkes auf der Straße", begann Nicolás Maduro seine Rede. Tatsächlich hatten sich an diesem 19. April, einem Feiertag zu Ehren des venezolanischen Unabhängigkeitskampfes vor 207 Jahren, Hunderttausende im ganzen Land versammelt. Was Maduro nicht erwähnte: Dass die meisten dabei gegen ihn und seine diktatorische Herrschaft protestierten.

Und Tausende taten es wie angekündigt wieder am Donnerstag, die Polizei ging mit Tränengas gegen sie vor.

Sicherlich, im Zentrum der Hauptstadt Caracas hatte sich am Vortag auch eine nicht unerhebliche Anzahl von regimetreuen Gegendemonstranten eingefunden, größtenteils in roten Hemden und mit Käppchen in den Farben der Nationalflagge. Niemand kann seriös sagen, wie viele es tatsächlich waren, außer Maduro natürlich: Drei Millionen, ließ der später mitteilen. Caracas hat rund zwei Millionen Einwohner, der Ballungsraum etwa drei. Wenn es stimmt, was Maduro behauptet, dann müssten ihm alle, aber auch wirklich alle Hauptstädter live zugehört und ihn beklatscht haben.

Fragt sich nur, wer dann all die anderen Menschen waren, die im Rest von Caracas für sofortige Neuwahlen demonstrierten, für die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie für die Zulassung humanitärer Hilfslieferungen zur Bekämpfung der dramatischen Versorgungskrise. Wenn alle wunschlos glücklich sind in Venezuela: Woher kamen dann diese Massen, die von Polizei, Armee und regierungstreuen Milizen zum Teil brutal angegriffen wurden, mit Tränengas und Wasserwerfern und offenbar teils auch mit scharfer Munition?

In Caracas starb ein 17-jähriger Demonstrant durch einen Kopfschuss. In der Stadt San Cristóbal wurde eine 23-jährige Demonstrantin erschossen. Oppositionelle verbreiteten ein Video vom mutmaßlichen Tathergang. Darauf ist zu sehen, wie aus einer Gruppe von Motorradfahrern auf die Frau gefeuert wird. Das nährt zumindest den Verdacht, dass der Mörder aus den Reihen der sogenannten Colectivos stammt. Das sind jene paramilitärischen Gruppen im Dienste der Regierungspartei, die nach Augenzeugenberichten für die meisten der inzwischen acht toten Demonstranten seit Anfang April verantwortlich sind. Der geübte Realitätsleugner Maduro aber rief am Mittwochabend seinen Claqueuren zu: "Wenn das bolivarische Volk auf den Straßen ist, dann gibt es Frieden."

Im ewigen Frieden muss jetzt auch ein 35 Jahre alter Polizist der Nationalgarde ruhen, das dritte Todesopfer der gewalttätigen Ausschreitungen vom Mittwoch. Obwohl Politiker des Oppositionsbündnisses MUD immer wieder zum gewaltlosen Widerstand aufrufen, ist nicht zu leugnen, dass sich auch die Protestbewegung zunehmend radikalisiert. Was sich dieser Tage in Caracas abspielt, erinnert wieder an jene bürgerkriegsartigen Szenen vom Februar 2014, bei denen insgesamt 43 Menschen ums Leben kamen.

Im Staatsfernsehen geht es nun vor allem um den toten Nationalgardisten, dessen Fall von der wackelnden Regierung erwartungsgemäß instrumentalisiert wird. Er soll die These zu stützen, hier seien lediglich ein paar Terroristen am Werk, um einen von Washington aus gelenkten Staatsstreich durchzuführen. Es hat schon Tradition, das Maduro von einem Putsch spricht, wenn er besonders unter Druck gerät. Mit dem angeblich jüngsten Umsturzversuch begründete er auch seinen Plan, "zum Schutz des Friedens" eine halbe Million Reservisten der regierungstreuen Milizen mit Gewehren auszustatten. Jene Motorradgangs also, die ohnehin schon Angst und Schrecken im Land verbreiten.

Offenbar nimmt der Präsident eine Eskalation der Gewalt in Kauf, um das aufgebrachte Volk von der Teilnahme an weiteren Protestmärschen abzuschrecken. Zu dieser Taktik scheint auch eine Welle von Verhaftungen zu gehören. Laut Maduro wurden am Mittwoch 30 Gewalttäter sowie ein "terroristischer Anführer" festgenommen. Derzeit gilt wohl jeder Regierungsgegner als potenzieller Terrorist. Venezolanische Menschenrechtler sprachen am Mittwochabend von 500 Verhaftungen.

Dass die Verdrehung der Wahrheit im Staate Maduros kaum Grenzen kennt, bewies auch Außenministerin Delcy Rodríguez. Sie dankte "der ganzen Welt" dafür, dass sie sich mit Venezuela gegen den Angriff der Putschisten solidarisiert habe. Das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten wurde in Wirklichkeit aus allen Himmelsrichtungen verurteilt. Scharfe Kritik kam unter anderem von der Organisation Amerikanischer Staaten, den USA sowie der Europäischen Union.

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