Süddeutsche Zeitung

Proteste gegen Maduro: "Sie hatten Glück und wurden nur ein bisschen geschlagen"

Ausgewanderte Venezolaner sorgen sich um Freunde und Verwandte, erzählen von Käse für 8000 Bolívar, Architekten, die verzweifelt einen Putzjob suchen und der Angst vor Tränengas und Gummigeschossen. Sechs Protokolle.

Von Bernadette Mittermeier

Angesichts von Mangelwirtschaft und Unterdrückung sind Millionen Venezolaner aus ihrer Heimat geflohen. Viele haben Venezuela auch schon früher verlassen, der Liebe oder des Jobs wegen - oder weil sie nicht mit der politischen Richtung einverstanden waren, die ihr Land unter Hugo Chávez und dessen Nachfolger eingeschlagen hatte.

Und so protestieren die Gegner von Machthaber Maduro inzwischen nicht nur in Caracas oder Maracaibo, sondern auch in Madrid, in Peking - und in München. Bei einer Demonstration hat die SZ sechs von ihnen getroffen. Sie erzählen, wie sie Venezuela bei ihren Besuchen erlebt haben und warum sie sich große Sorgen um ihre Familie und Freunde machen. Sie sind sich einig: So schlimm wie jetzt war die Lage noch nie. Dafür war aber auch noch nie die Chance so groß, dass sich endlich etwas ändert.

"Meine Eltern haben extrem abgenommen"

Rafael Diaz lebt seit 29 Jahren in Deutschland.

Meine ganze Familie ist noch in Venezuela. Sie erzählen mir nicht viel, damit ich mir keine Sorgen mache, aber ich sehe ja, wie es ihnen geht. Meine Eltern haben extrem abgenommen. Wir skypen mindestens einmal die Woche und seit einem halben Jahr werden sie dünner und dünner.

Sie sind schon über 75, versuchen aber trotzdem noch, zu den Demonstrationen zu gehen. Die Regierung sorgt aber dafür, dass die Menschen kaum Zeit für Protest haben. Nur drei Mal die Woche gibt es Wasser, für zwei Stunden. Sobald Wasser kommt musst du daheim bleiben und alles erledigen: duschen, waschen, Wasser sammeln. In den Supermärkten darf man nur einmal die Woche einkaufen, die Endziffer in deinem Ausweis bestimmt den Tag, an dem du darfst. Wenn meine Eltern dran sind, müssen sie um drei Uhr morgens aufstehen, Schlange stehen und versuchen, etwas abzubekommen. Sie kämpfen unter anderen Regeln als ich hier.

Es sind die Kleinigkeiten, bei denen mir das besonders auffällt. Meine Eltern haben mich einmal in Deutschland besucht. Wir waren gemeinsam essen, sie haben automatisch die Servietten genommen und angefangen, sie in fünf Stücke zu teilen, damit alle etwas abgekommen. Der Mangel prägt die gesamte Bevölkerung.

Das letzte Mal war ich vor vier Jahren in Venezuela. Das ist nicht mehr das Land, das ich vor 29 Jahren verlassen habe. Die Menschen vermeiden Augenkontakt, man spürt die Angst. Wer auf der Straße mit Tüten herumläuft wird angestarrt und gefragt, wo er das gekauft hat. Es werden viele Jahre nötig sein, um das aus den Köpfen wieder rauszubekommen.

"Ich habe Menschen gesehen, die ihr Essen aus dem Müll holen mussten"

Andrea Brunnschweiler lebt seit sechs Jahren in Deutschland.

Mein Vater ist Schweizer, daher hatte ich Glück: Ich habe schon in der Schule deutsch gelernt und konnte zum Studium herkommen. In Venezuela hätte ich keine Möglichkeit gehabt, mich zu entfalten.

Meine Eltern leben noch dort, ich habe sie jedes Jahr an Weihnachten besucht - bis auf letztes Jahr. Sie meinten, es macht keinen Sinn, weil es so gefährlich ist, vor die Tür zu gehen. Es ist traurig zu sehen, wie alles mit jedem Jahr schlimmer wird. Als ich das letzte Mal in Venezuela war, habe ich auf unserer Straße Menschen gesehen, die ihr Essen aus dem Müll holen mussten.

Dabei könnte Venezuela so ein schönes Land sein. Ich würde meine Heimat gerne meinem deutschen Freund zeigen. Wir sind schon seit fünf Jahren zusammen, aber ich habe mich noch nicht getraut, ihn mitzunehmen. Meine Eltern haben mit ihren Nachbarn eine Whatsapp-Gruppe, damit sie sich gegenseitig warnen können. Täglich meldet jemand einen Überfall.

Ich kenne hier in Deutschland Studenten, die ihren Eltern in Venezuela im Monat zwanzig oder hundert Euro schicken, um sie zu unterstützen. Meine Eltern haben Freunde, die in Venezuela als Architekten gearbeitet haben. Jetzt sind sie über 60, ausgewandert, und suchen in Spanien einen Putzjob, um zu überleben.

"Von hinten kam jemand und hat mir die Pistole in den Nacken gedrückt"

Erick Ehrmann lebt seit sechs Jahren in Deutschland.

Im Dezember war ich zum ersten Mal seit drei Jahren wieder mal in Venezuela. Früher hat man dort noch Leute auf der Straße gesehen. Wenn sie heute rausgehen, dann nur, um Schlange zu stehen. Wer nichts zum Essen findet bleibt zu Hause, draußen ist es zu gefährlich.

Ich habe das selbst erlebt: Einmal wollte ich meine Freundin besuchen und bin zu Fuß zu ihr gelaufen. Von hinten kam jemand und hat mir eine Pistole in den Nacken gedrückt. Ich sollte alles rausrücken, also habe ich ihm mein Handy und mein Geld gegeben - umgerechnet einen Euro, für Venezuela ist das viel Geld. Mein Vater ist einmal fast entführt worden. Er ist nur entkommen, weil die Entführer einen Unfall gebaut haben, und er aus dem Auto flüchten konnte. Solche Geschichten kann in Venezuela fast jeder erzählen.

Von meinen Freunden dort gehen viele zu jeder Demonstration, auch meine Eltern sind dabei. Glücklicherweise sind sie ein bisschen ängstlich und stürzen sich nicht mitten ins Geschehen. Drei meiner Kumpels wurden schon festgenommen. Sie hatten Glück und wurden nur ein bisschen geschlagen, haben kein Essen bekommen und wurden mit kalten Wasser übergossen. Nach vier Tagen wurden sie wieder freigelassen. Immerhin nichts Schlimmeres, nur ein paar blaue Flecken.

Conny Mader lebt seit 41 Jahren in Deutschland.

Endlich glauben meine deutschen Freunde mir, wenn ich ihnen erzähle, wie schlimm es in Venezuela ist. Ich sage schon seit Jahren, dass da endlich was passieren muss. Meine deutschen Bekannten dachten immer, ich übertreibe. Jetzt ist Venezuela in der Welt angekommen, das macht mir Hoffnung.

Ich lebe zwar schon lange in Deutschland, aber ich habe noch enge Kontakte in meine alte Heimat. Die Lage dort ist nicht auszuhalten. Die Menschen verhungern. Es fehlt das Nötigste: Essen, Medizin, gar nicht zu reden von irgendwelchen Extras. Dauernd geht das Wasser aus. Das ölreichste Land, und ständig wird der Strom abgestellt! Das muss man sich mal vorstellen! Wer es sich leisten kann ist weg, aber ich kenne viele, die dafür zu arm sind. Schon einen Pass zu besorgen ist teuer und schwierig.

Es ist furchtbar in Deutschland zu sitzen und zuzusehen. Mir geht es hier gut, aber ich kann nichts machen. Ich weiß nicht, wie die deutsche Regierung am besten helfen könnte, die Situation ist so komplex. Aber das mindeste ist, dass die Welt sieht: So kann es nicht weitergehen.

"Was mir wirklich Angst macht sind die fehlenden Medikamente"

Adrian Kuhnle lebt seit zehn Jahren in Deutschland.

Bis 2016 bin ich noch jedes Jahr nach Venezuela gefahren, aber ab da hat man gesehen, wie weniger und weniger Menschen zurückgekommen sind und die Lage sich verschlechtert hat. Jede Woche fehlte eine andere Sache im Supermarkt, die eine Woche war es Klopapier, die nächste Milch.

Meine Mutter hat mir aus Venezuela ein Foto von einem Preisschild geschickt, da sieht man, wie die Preise explodieren. Der gleiche Käse hat am 19. Januar noch 2737,42 Bolívar gekostet - am 21. Januar sind es schon 7990,06 Bolívar. Zwei Tage später kostet der gleiche Käse mehr als das Doppelte!

Früher ist meine Mutter oft zu den Demos gegangen, hat viel Tränengas eingeatmet. Jetzt ist sie 69 und bleibt lieber daheim. Wenn die Armee anfängt Tränengas zu versprühen gibt es immer ein paar Demonstranten, die Steine zurückwerfen. Die friedlichen Demonstranten müssen dann schnell weglaufen, das geht mit 69 nicht mehr so gut.

Ich schicke ihr immer wieder hundert Euro, das wäre mehr als genug für einen Monat. Aber das hilft wenig, weil es nichts zu kaufen gibt. Deshalb versuche ich, meine Mutter nach Deutschland zu holen, aber das darf ich nicht, obwohl ich deutscher Staatsbürger bin. Ich muss sie irgendwie rausholen, sie kann nicht in Venezuela bleiben.

Was mir wirklich Angst macht sind die fehlenden Medikamente. Meine Oma musste operiert werden, das ging erst mal zwei, drei Tage lang nicht, weil es im Krankenhaus kein fließendes Wasser gab. Sie war kurz in einem privaten Krankenhaus, da hat sie mich angerufen: "Du musst mir jetzt 500 Dollar auf ein Konto überweisen, sonst werde ich nicht angenommen." Die OP wäre unbezahlbar gewesen. Deshalb ist sie dann in ein öffentliches Krankenhaus. Dort musste sie selbst die Betäubungsmittel besorgen. Meine Mutter ist tagelang in Caracas herumgefahren, um die Anästhesie zu bekommen. Sie hat dann gerade mal die minimale Menge bekommen, die sie gebraucht hat. Wäre etwas schief gegangen in der OP, dann hätte es keine Betäubung mehr gegeben.

"Vor allem Jugendliche werden verschleppt"

Melvis Uzcálegui lebt seit 12 Jahren in Deutschland.

Wer das Geld und die nötige Ausbildung hat, ist schon vor Jahren weg. Meine venezolanischen Freunde aus dem Studium sind alle wie ich schon lange ausgewandert, auch meine Geschwister leben nicht mehr in Venezuela. Meine Eltern sind noch da. Ich versuche, ihnen regelmäßig Geld zu schicken, aber das ist sehr kompliziert. Ich kann nicht einfach zur Bank gehen, über die offiziellen Wege gerät das Geld in die falschen Hände. Darum muss ich es einem Freund geben, der in Brasilien lebt und es von da nach Venezuela verschickt.

Das Geld brauchen sie unbedingt: Meine Mutter musste vor Kurzem dringend operiert werden, aber das Krankenhaus konnte ihr kein Kontrastmittel spritzen, weil einfach keines da war. Deshalb musste sie für die OP in die USA fliegen. Es fehlt an allem, selbst einfache Dinge wie Handschuhe sind nicht mehr zu kaufen.

Mein Vater geht deshalb zu den Demonstrationen in Venezuela. Die Straße ist unsere einzige Hoffnung. Mit leeren Händen kannst du sonst nichts machen, gegen die Armee kommen die einfachen Menschen nicht an. Zum Glück leben meine Eltern in der Andenregion, da ist es nicht so gefährlich. Wenn man dort ein, zwei Stunden demonstriert und wieder heimgeht, dann wird man in Ruhe gelassen. In den großen Städten ist es ganz anders. Wir hören von vielen Entführungen dort, vor allem Jugendliche werden verschleppt. Meine Tante lebt in Caracas und hat zwei kleine Kinder, die sind 6 und 14 Jahre alt. Seit einer Woche lässt sie die Kleinen nicht mehr in die Schule gehen, aus Angst vor einer Entführung.

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