Venedig:Seenotrettung

Die Venezianer haben jetzt die Gelegenheit, für ihre Unabhängigkeit von den Industrieorten am Festland zu stimmen. Sie sollten diese Chance nutzen. Denn nur so - und mit der Unterstützung durch Europa - lässt sich die Lagunenstadt mit ihrer großen Geschichte bewahren.

Von Kia Vahland

Überstanden hat diese Stadt schon vieles. Die Pest. Die Liga von Cambrai, in der sich im 16. Jahrhundert alle Großmächte gegen Venedig verschworen, der Papst, der Kaiser, vier europäische Könige. Später dann die Besetzung durch Napoleon, die Venedig seine Unabhängigkeit kostete. Und in der Gegenwart die touristische Massenbewegung mit mehr als 30 Millionen Gästen im Jahr.

Die Venezianer sagen, die Stadt könne gar nicht untergehen, weil sie seit ihrer Gründung, angeblich am Verkündigungstag des Jahres 421, unter dem Schutz der Muttergottes stehe. Jetzt, nach den großen Fluten der vergangenen Wochen, können die Venezianer jeden Beistand, auch himmlischen, gebrauchen - so sie ihn als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen.

Denn nur ein fundamentaler Politikwechsel kann die Stadt, die sich Serenissima, die Durchlauchteste, nennt, noch vor dem Untergang retten. Das Dreckwasser, das beinahe 70 Kirchen sowie etliche Palazzi gerade mehrmals meterhoch flutete, zerfrisst die Mauern von innen. Die Lagune muss nun soweit wie möglich deindustrialisiert werden, die immer tiefer ausgebaggerten Kanäle müssen verflacht werden, um sich der ursprünglichen Wassertiefe von 1,50 Meter anzunähern. Container- und Kreuzfahrtschiffe haben in einem so fragilen Ökosystem nichts zu suchen, Chemieabflüsse schon gar nicht.

Schuld an den Überschwemmungen sind die Eingriffe der Menschen seit dem italienischen Faschismus, der mit der Industrialisierung der Lagune begonnen hatte. Der Klimawandel macht nun aus der schleichenden Katastrophe eine akute. Die Flutsperre, die helfen sollte, wurde wegen Korruption nicht fertig, ihre schon im Wasser installierten Teile verschlimmern die Lage nur.

Diese Politik der Zerstörung ist nicht im Sinne der Venezianer, und sie haben sie mehrheitlich auch nicht gewählt. Seit Benito Mussolinis Zeiten bildet die Wasserstadt eine Verwaltungseinheit mit den Industrieorten am Festland. Dort leben 180 000 Menschen, auf den Inseln nur 79 000, davon 52 000 im Stadtgebiet. Die Venezianer sind in der Minderheit.

Das könnte sich ändern, wenn die Wähler beim Referendum am 1. Dezember für "Si" stimmen: für die verwaltungstechnische Autonomie Venedigs. Mit Ausnahme der Fünf-Sterne-Bewegung raten alle großen Parteien davon ab. Getragen wird die Kampagne für das Ja von Bürgerinitiativen sowie Natur- und Kulturschutzorganisationen. Die Abstimmung ist von europäischer Bedeutung, denn nur ein eigenständiges Venedig kann die Interessen der Stadt auch gegen die Interessen mancher italienischer Politiker geltend machen. Dafür muss der Stadtrat sich auf internationale Hilfen einlassen, muss Experten für Hydraulik, Ökologie und Kulturschutz einbeziehen, muss in Brüssel für ein groß angelegtes Rettungsprogramm werben.

Europa ist in der Pflicht, es geht um seine Geschichte. In Venedig entstand die moderne Händlergesellschaft, die geschäftstüchtig interkulturellen Austausch und das Toleranzprinzip über starre Glaubensgewissheiten setzte. Hier zeigte sich erstmals, wie ökonomischer Erfolg und kulturelle Blüte einander bedingen können, wie ein Staat offen bleiben kann für Einflüsse von außen, ohne dabei seine Traditionen preiszugeben. Was in der Lagune und im Sumpf der Korruption zu ertrinken droht, ist das europäische Ideal.

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