Süddeutsche Zeitung

Vatikan:Er nannte sie "Neffen"

Der frühere Kardinal und Erzbischof von Washington, Theodore Edgar McCarrick, hat systematisch Priesteranwärter und Seminaristen sexuell missbraucht. Jetzt übt der Heilige Stuhl etwas Selbstkritik.

Von Matthias Drobinski und Oliver Meiler, Rom/München

Ein bisschen Selbstkritik, etwas Scham und viel angebliche Ohnmacht. In einem 449 Seiten langen Bericht schaut der Vatikan auf seinen Umgang mit dem früheren Kardinal und Erzbischof von Washington, Theodore Edgar McCarrick, 90, der trotz Gerüchten über sexuelle Vergehen an jungen Männern eine steile Karriere machen konnte in der katholischen Kirche. 2019, nachdem auch der Missbrauch von Minderjährigen bekannt geworden war, wurde er nach einem kirchenrechtlichen Verfahren aus dem Priesterstand entlassen - die Höchststrafe für einen Kleriker.

Zwei Jahre lang hat das Staatssekretariat auf Anweisung von Papst Franziskus die Archive aller relevanten Institutionen durchforstet, um Verantwortlichkeiten zu suchen. Mehr als neunzig Zeugen habe man angehört, die Interviews hätten bis zu dreißig Stunden gedauert. Das Fazit: Es ist einiges schiefgelaufen, der Fall McCarrick bleibt eine "blutende Wunde", eine "unsägliche Tragödie". Aber konkrete Schuld trägt niemand, jedenfalls keiner der drei Päpste, die mit McCarrick zu tun hatten. Sie wurden getäuscht, einmal sogar offen belogen.

Unter Johannes Paul II. wurde McCarrick mehrmals befördert

Brisant ist dabei natürlich vor allem der Blick auf das Pontifikat von Johannes Paul II. In dessen Zeit fielen die wichtigsten Beförderungen des als intelligent und eifrig bekannten, charmanten Bischofs von Metuchen (ab 1981) und Newark (ab 1986). Ende 2000 wurde er Erzbischof von Washington D.C. und kurz darauf Kardinal, obschon es Anschuldigungen gegeben hatte.

"Uncle Ted", wie sich McCarrick in den 80er-Jahren gerne nennen ließ, bahnte immer wieder Kontakte zu Priesterseminaristen an, um sie ins Bett zu bringen. Er lud sie ein in ein Strandhaus in New Jersey, immer nahm er einen jungen Mann mehr mit, als das Haus Betten hatte: Der ohne Bett musste beim Erzbischof übernachten. Auf Dienstreisen nahm er Knaben im Highschool-Alter mit. Er nannte sie "Neffen".

Erwiesen war nichts. Doch 1999 schrieb Kardinal John Joseph O'Connor dem Apostolischen Nuntius in den USA einen Brief, in dem er die Geschichten zusammenfasste und von einer Beförderung McCarricks abriet. Der Brief gelangte zu Johannes Paul II., der McCarrick, den er gut kannte und auch für sein Talent als Spendensammler schätzte, von der Kandidatenliste strich. Nur kurz allerdings, dann änderte er seine Meinung. Warum nur?

"In den siebzig Jahren meines Lebens hatte ich nie sexuelle Beziehungen"

In den Archiven fanden die Rechercheure unter anderem einen Brief McCarricks aus dem August 2000 - an Johannes Pauls treuen Privatsekretär, Stanislaw Dziwisz. Darin stand: "In den siebzig Jahren meines Lebens hatte ich nie sexuelle Beziehungen, weder mit einem Mann noch einer Frau, jung noch alt, Kleriker noch Laie, ich habe auch nie eine andere Person missbraucht oder mit Respektlosigkeit behandelt." McCarrick räumte ein, dass er sein Bett im Strandhaus mit Seminaristen geteilt habe, das sei "unvorsichtig" gewesen. Doch zu sexuellen Handlungen sei es dabei nie gekommen. Die Lüge scheint den Polen überzeugt zu haben.

Benedikt XVI. wollte, kaum war er Papst geworden, McCarrick für zwei weitere Jahre im Amt bestätigen. Spitzenpolitiker suchten McCarricks Rat, für die Diplomatie des Vatikans war er zentral. Doch dann wurden neue Einzelheiten eines alten Missbrauchsfalls bekannt, die den Papst dazu bewegten, seinen Mann in Washington zu einem "freiwilligen" Rücktritt zu drängen. Ostern 2006 trat McCarrick als Erzbischof zurück. Gegen die Anweisung des Papstes reiste er aber munter weiter, traf Leute, sammelte Geld - mit dem er sich in Rom und in aller Welt Freunde machen konnte.

Erst 2018 holte ihn seine Geschichte ein. Zeugen und Gerichtsdokumente belegten, dass McCarrick seit den 1970er-Jahren systematisch seine hohe Position ausgenutzt hatte, um Priesteranwärter und Seminaristen sexuell auszubeuten. Immer wieder habe er Opfer oder Zeugen zum Schweigen gebracht. Papst Franziskus sorgte dann dafür, dass er Amt und Würde verlor.

Im Vatikan will man aus der "traurigen Geschichte" gelernt haben. Die Maßnahmen, die der Papst nach dem Gipfel zum Schutz der Minderjährigen 2019 ergriffen habe, seien auf den Fall McCarrick zurückzuführen. Der Jesuitenpater Hans Zollner, der Kinderschutzbeauftragte von Papst Franziskus, begrüßte den Bericht als "wichtigen Schritt nach vorne". Zollner lobte "den Mut und die Entschlossenheit" der Betroffenen von McCarricks Übergriffen - "ohne sie hätte es diesen Bericht nicht gegeben".

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