Uwe Barschels Tod:Das Vermächtnis von Zimmer 317

Ein Besuch am Schicksalsort des Uwe Barschel: Vor 20 Jahren starb der CDU-Politiker im Genfer Hotel "Beau-Rivage" - die Schatten seines rätselhaften Todes reichen bis in die Gegenwart.

Hans Leyendecker und Nicolas Richter

Die Badewanne, in der Uwe Barschel starb, ist verschwunden. Jacques Mayer, Inhaber des Genfer Hotels "Beau-Rivage", hatte sie aufbewahrt, so wie er Andenken an Präsidenten und Adelige aufhebt, die sein Hotel besucht haben.

Uwe Barschels Tod: Gezeichnet von den Blatternarben des politischen Kampfes: Auf Uwe Barschel lastete ein ungeheurer Druck.

Gezeichnet von den Blatternarben des politischen Kampfes: Auf Uwe Barschel lastete ein ungeheurer Druck.

(Foto: Foto: AP)

Die berühmte Wanne musste eines Tages einem modernen Modell mit edlen Armaturen weichen und landete auf dem Speicher, allerdings hatte sie das Personal nicht richtig beschriftet. "Beim Aufräumen auf dem Dachboden hat sie jemand entsorgt", sagt der Hotelier. Dann sagt er fast ein wenig erleichtert: "Es ist vielleicht auch ganz gut so."

Zum Wesen ungewöhnlicher Affären gehört es, dass Beweisstücke verschwinden, damit aus Fakten Fiktionen werden können. Das war im Fall von Lady Diana so, die nach der Überzeugung von Verschwörungstheoretikern einem Mordkomplott zum Opfer fiel; das ist so beim Kennedy-Mord, der angeblich eine Kabale von Agenten war.

Zwar lässt sich der Fall des früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel aus Mölln eigentlich nicht mit dem mächtigen JFK und dem Unglück der Prinzessin der Herzen vergleichen, aber es gibt beim Publikum eine stille Sehnsucht nach dem Komplott - selbst wenn es nur um einen früheren CDU-Regierungschef aus der Provinz geht, der mal Hauptfigur in einem Politskandal war.

Die Frau im fünften Stock

Das Ende des 43 Jahre alten Dr. Dr. Barschel, der am 11. Oktober 1987 nach einer Überdosis Medikamenten tot in Zimmer 317 in der Wanne gefunden und diskret über den Lieferantenausgang hinausgebracht wurde, steckt voller Mythen und beschäftigt bis heute Journalisten, Staatsanwälte und Drehbuchschreiber.

War es Selbstmord, Sterbehilfe oder doch Mord? Rechtzeitig zum 20. Todestag kursieren die Mord-Hypothesen noch einmal in neuen Büchern und Fernsehbeiträgen. Danach war Barschel in Waffengeschäfte verwickelt. Ob er mit dem rassistischen System in Südafrika handelte oder mit Iran - stets stand am Ende angeblich der raffiniert getarnte Mord durch staatliche Killer. Elf Nachrichtendienste wurden verdächtigt.

Dabei spielt es keine Rolle, ob Barschel der Gute war, der die Bösen auffliegen lassen wollte, oder ob er der Schurke war, der kassiert hatte und nicht liefern konnte. Einen Beweis für eine Beteiligung Barschels an einem Waffengeschäft gibt es nach wie vor nicht.

Eine Geschichte wie ein Krimi, deren Aufklärung darunter leidet, dass angebliche Zeugen leider verstorben oder kompromittierende Unterlagen verschwunden sind. "Selbstmord ist langweilig, Mord ist interessant", stellt der Kieler Generalstaatsanwalt Erhard Rex fest, der sich seit zehn Jahren mit dem Fall beschäftigt.

"Wer heute mit dem Stoff Geld verdienen will", spiele Selbstmordthesen herunter oder blende sie aus. Dabei hängen auch einige seiner untergebenen Strafverfolger Mordtheorien an. Vor 13 Jahren hatte die Lübecker Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Verdachts des Mordes gegen Unbekannt eingeleitet. 1998 wurde die 14.000 Seiten dicke Akte geschlossen, weil es weder Verdächtige noch Motive gab.

Der Chef der Lübecker Behörde, Heinrich Wille, geht auch heute noch von Mord aus, sieht aber gleichzeitig keinen Grund, die Ermittlungen wiederaufzunehmen. Denn es gibt immer noch niemanden, auf den sich eine Jagd konzentrieren könnte. Rex verwendet lieber die geschmeidige Formulierung, Barschels Tod sei "rätselhaft" geblieben, er geht aber von Freitod aus.

Die Aufregung um das Ende Barschels erschloss sich außerhalb der Republik nicht jedermann sofort. "Sein Tod war für mich zunächst nichts Ungewöhnliches", sagt Hoteldirektor Mayer, ein kräftiger Mann mit weißen Haaren.

"Ich habe immer wieder Tote aus der Badewanne oder aus dem Bett geholt. In einem Hotel spielen sich eben auch Dramen ab." Da war die Frau, die unter der Dusche an einem Herzinfarkt starb oder eine andere, die aus dem fünften Stock in den Innenhof sprang und dem Concierge Aldo Giacomello, 61, der seit 43 Jahren in dem feinen Haus am Genfer See arbeitet, im Atrium vor die Füße fiel.

"Eine sehr vornehme Frau", erinnert sich Giacomello, der ihr immer die Zigaretten brachte. Erst hatte sie versucht, sich von einer Brücke in die Rhône zu stürzen. "Später sagte sie zu mir, Aldo, es ist nicht die Lust zu sterben. Es ist das Verlangen, aufzuhören, dieses Leben zu leben", erinnert sich der Concierge. "Dann ging sie rauf und fiel mit dem Kopf nach vorn. Wie ein Stein."

Seit 1865 führt die Familie Mayer das "Beau-Rivage". Abgestiegen sind dort zum Beispiel die Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt, der Komponist Richard Wagner, Ludwig II., Charles de Gaulle oder Caroline von Monaco.

Die berühmteste Tote im Hotel am Seeufer war Kaiserin Elisabeth von Österreich, auch Sisi genannt, die am 10.September 1898 hier starb, nachdem ihr der Anarchist Luigi Lucheni am See eine zugespitzte Feile ins Herz gestoßen hatte. Eigentlich hatte er es auf einen Prinzen abgesehen, der aber nicht gekommen war.

"Die Kaiserin kam röchelnd ins Hotel und stieß ihren letzten Seufzer etwa 20 Minuten später aus. Ich blieb bei ihr, bis etwa sechs Stunden später das Gefolge eintraf", hatte Fanny Mayer, die Großmutter, ihrem Enkel erzählt. Als sich Barschel am Nachmittag des 10. Oktober 1987 an der Rezeption einfand, "wusste hier niemand, wer Barschel ist", sagt Mayer. "Als Hotel haben wir ihm ein Zimmer gegeben und das war's."

Der Gast, der sich gegen 18.30 Uhr vom Zimmerkellner eine Flasche Beaujolais bringen ließ, war angeblich der Hauptakteur in einer der größten Polit-Affären der deutschen Nachkriegszeit. Der Christdemokrat, so lautete vor 20 Jahren der Vorwurf, habe seinen Konkurrenten um das Amt des Ministerpräsidenten, den Sozialdemokraten Björn Engholm, mit übelsten Verleumdungen bekämpft. Sprichwörtlich war damals von "Barscheleien" die Rede, manche orteten sogar ein "Waterkantgate" in Kiel.

Bald nach Barschels Tod hielten dann deutsche Reisebusse vor dem "Beau-Rivage", die Touristen starrten zum dritten Stock hinauf. Die ganz Eifrigen fotografierten die Zimmertür von 317. Mayer gingen vor allem die deutschen Reporter aufs Gemüt.

"Die riefen mich ständig an. Sie fragten nach der Renovierung oder der Speisekarte. Im zweiten Satz aber merkte ich schon, dass es ihnen nur um Barschel ging. Sie dachten, ich könne Geheimnisse verraten." Mayer verhängte eine Informationssperre, erst jetzt, da der Fall Geschichte ist, redet er darüber. Genf sei eine "kleine, neutrale, diskrete Stadt" mit calvinistischer Tradition, und Diskretion sei für ihn ein Gebot, sagt er.

In Kiel gab es zwei Untersuchungsausschüsse mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Der zweite befand, es gebe keinen Beweis, dass Barschel an den Tricks gegen Engholm beteiligt war.

Der große Drahtzieher soll sein Medienreferent Reiner Pfeiffer gewesen sein, der in der Affäre zunächst als Kronzeuge gegen Barschel aufgetreten war. Einige Sozialdemokraten waren zudem schon früh eingeweiht gewesen, was nicht zur Opferrolle passt. Barschel wiederum hatte in seiner berühmt gewordenen "Ehrenwort"-Pressekonferenz gelogen.

Pannen in Genf

Waren das Gründe, sich umzubringen? Nein, sagt seine Frau Freya Barschel: "Er hatte sich nichts vorzuwerfen, und für ihn als gläubigen Menschen schied Selbstmord aus." Barschel, das immerhin steht fest, stand damals unter ungeheurem Druck.

Er war gezeichnet von den Blatternarben des politischen Kampfes und litt darunter, dass sich die eigene Partei von ihm abgewandt hatte. Selbst sein Rücktritt als Regierungschef reichte vielen Parteifreunden nicht. Es gab sogar Forderungen nach Parteiausschluss. Der überehrgeizige Barschel war möglicherweise mehr Opfer als Täter in der Affäre, aber beim "Ehrenwort"-Auftritt hatte er nun mal gelogen.

Außerdem war Barschel suchtkrank. Über viele Jahre hatte er sich Unmengen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln verschreiben lassen. Allein einer seiner Ärzte hatte ihm Rezepte für 3670 Tabletten der Psychodroge Tavor ausgestellt. Experten urteilten später, dass deswegen eine Persönlichkeitsveränderung möglich sei, die "mit affektiver Verflachung ... und dem Abgleiten aus der Verantwortung verbunden ist".

Das Vermächtnis von Zimmer 317

Unklar bleibt, warum Barschel nach Genf reiste. Angeblich wollte er jemanden treffen, die Person aber konnte nie gefunden werden. Ob es sie gab oder ob er sie erfand, bleibt ein Rätsel. Im Urlaub auf Gran Canaria bat er eine Mitarbeiterin der Ferienanlage um einen Flug nach Zürich. Sie erwiderte, die Maschine sei voll. Barschel sagte dann: "Egal, dann eben ein Flug über Madrid oder Genf." Sie bestellte ein Ticket nach Genf.

Uwe Barschels Tod: Das "Beau Rivage" in Genf: Eleanor Roosevelt, de Gaulle und Wagner stiegen hier ab. Die berühmteste Tote: Kaiserin Sisi, die 1898 im Hotel verblutete.

Das "Beau Rivage" in Genf: Eleanor Roosevelt, de Gaulle und Wagner stiegen hier ab. Die berühmteste Tote: Kaiserin Sisi, die 1898 im Hotel verblutete.

(Foto: Foto: dpa)

Über den Ereignissen liegt vor allem deshalb ein Schleier, weil die Schweizer Ermittler schlampig arbeiteten. Es gibt keine ordentlichen Tatortfotos, weil der Fotoapparat falsch eingestellt war. Es gibt keine Auswertung von Fingerspuren, weil die Ermittler darauf weitgehend verzichtet hatten. Diese Nachlässigkeiten stehen der Wahrheitsfindung im Weg.

Auch durch diese Fehler, sagt Rex, gebe es "Ungereimtheiten, nicht erklärbare Spuren und rätselhafte Geschehensabläufe". "Je nach innerer Ausrichtung des Diskutanten" würden die Spuren "in Richtung Mord oder in Richtung Selbstmord verwendet".

Das Dilemma lässt sich am Konflikt zwischen den schleswig-holsteinischen Strafverfolgern Wille und Rex nachvollziehen. Willes Mordtheorie beruht auf den Spuren in Zimmer 317. Im Flur lag ein ausgerissener Hemdknopf. Die Krawatte sei aber so gebunden gewesen, dass der Knopf nicht ohne Weiteres abgerissen werden konnte, stellt Wille fest.

Barschel habe ein Hämatom auf der rechten Stirnseite gehabt, das deute auf Gewalt hin. Auffällig seien die Schuhe. Der rechte lag im Flur, der linke zugebunden im Bad. Das Leder war ausgewaschen, eine aggressive Flüssigkeit, womöglich ein Hautgift, hatte die Sohle rissig gemacht. Jemand soll versucht haben, den Schuh mit einem Handtuch abzuwischen, das neben der Zimmertür gefunden wurde.

Die Weinflasche, die der Kellner brachte, ist verschwunden. Auffällig ist aus Willes Sicht auch ein Whiskey-Fläschchen. Auf dem Boden einer kleinen Flasche Jack Daniel's entdeckten Gutachter winzige Spuren des Wirkstoffs Diphenhydramin, der auch im Körper Barschels gefunden wurde. Es sei möglich, dass Barschel in einen Dämmerzustand versetzt und dann von Unbekannten in die Wanne gelegt worden sei.

Rex findet den Hemdknopf "nebbich". Da Barschel etliche Medikamente geschluckt habe, sei er wohl nicht mehr sorgfältig mit dem Hemd umgegangen. Das achtlose Hinwerfen eines Schuhs deute eher auf das unplanmäßige Handeln eines "bewusstseinsgetrübten" Menschen als auf Mord hin.

Aus Sicht eines Killers sei es "unprofessionell, laienhaft und geradezu dumm, einen angeblich verräterischen Schuh mit einem Handtuch abzuwischen und dieses Handtuch demonstrativ in den Flur zu werfen".

Verräterische Socken

Dass Barschel angeblich in einem Lösungsmittel gestanden haben soll, sei überhaupt nicht nachvollziehbar. Dann hätten die Socken, die unzerstört waren, die Farbe verloren und wären in Fetzen gegangen.

Nur wenn der Giftstoff mit exakt zwanzig Prozent Wasser verdünnt worden wäre, wären diese Socken unversehrt geblieben. Bei Perlon-Socken wäre das Wasserverhältnis schon wieder anders gewesen. Außerdem sei das angebliche Lösungsmittel nicht in den Bereich der Fersen geflossen. Barschel müsste, so Rex, auf Zehenspitzen gestanden haben, als ihm ein Mörder den Schuh auszog, um dann im vorderen Fußbereich ein Hautkontaktgift zu injizieren.

Bei der Stirnverletzung, so Rex, handle es sich um ein "blasses Hämatom", das sich jemand bei Bewusstseinstrübungen selbst zuziehen könne. Auch seien keinerlei Spuren von Gewalt im Zimmer gefunden worden. Die geringen Spuren des Schlafmittels in dem Whiskey-Fläschchen könnten nach Aussage eines Gutachters dadurch erklärt werden, dass Barschel ein Schlafmittel eingenommen hatte und über die Lippen Spuren in die Flasche gelangt seien.

Warum der angebliche Mörder das Fläschchen ausgespült haben soll, sei nicht nachvollziehbar. Kein Abschiedsbrief, keine Hinweise auf drohenden Suizid? Rex winkt ab. Auch der Freidemokrat Jürgen Möllemann sei ein Kämpfer gewesen und dann ohne Abschied in den Tod gesprungen. Rex' Fazit: Die Mordindizien seien "längst nicht so belastbar, wie sie zunächst erscheinen".

Zimmer 317 kennt das Geheimnis, aber die Wände reden nicht. Mayer hatte den Raum zunächst nicht wieder vermietet, dann änderte er die Zimmernummer. Vor etwa zehn Jahren hat er das alte 317 dann mit Zimmer 318 zu einer Junior-Suite verbunden. Im Bad von 317 sind die dunklen Fliesen von früher durch beige ersetzt worden. Jetzt kann man in 317 schlafen und, wenn es einen gruselt, an Barschels Todesstätte zu baden, im zweiten Bad in 318 duschen gehen.

Dem Concierge Giacomello, der keine Worte so oft benutzt wie Diskretion und Respekt, waren die Fragen nach Barschel immer zuwider. "Wie lag er drin?", fragten manche Gäste. Doch inzwischen fragen die Touristen aus Deutschland oder Japan vor allem wieder nach Sisi. "Sie interessieren sich für Gefühle, für Leichtigkeit.

Sie wollen nichts vom Tod wissen, sie wollen etwas über ihr Leben erfahren", sagt er. Mayer, der das Moderne und Rebellische an Sisi bewundert, hat vor dem Hotel eine geschwungene Statue der Kaiserin aufstellen lassen. An Barschel erinnert hingegen nichts mehr. Kein Schild, kein Bild. Selbst die Wanne ist weg. Jacques Mayer und sein Concierge finden, man sollte die Würde des Toten achten und ihn in Ruhe lassen.

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