USA vor der Wahl:Amerikas Traum

Das politische System der USA bietet viele Möglichkeiten für einen radikalen Neuanfang. Am Dienstag können US-Wähler ihre Stimme gegen die Hoffnung auf Wandel tauschen.

Stefan Kornelius

Spätestens nach acht, manchmal sogar schon nach vier Jahren erhält Amerika ein einzigartiges Geschenk: Das Land darf ein Versprechen einlösen, das in den Zeilen seiner Verfassung, in allen Fasern seiner Überzeugung, im Webmuster der Gesellschaft steckt. Amerika wählt nicht nur; sondern es wächst mit jeder Stimme die Chance auf einen Neubeginn, es lebt der Mythos der Staatsgründung wieder auf. Amerika kann, wenn es denn will, sich immer wieder neu erfinden. Am Dienstag, so scheint es, wird Amerika diese Chance nutzen.

USA vor der Wahl: Alle vier Jahre kann sich Amerika neu erfinden - und niemand verkörpert die Hoffnung auf einen Neubeginn mehr als Barack Obama

Alle vier Jahre kann sich Amerika neu erfinden - und niemand verkörpert die Hoffnung auf einen Neubeginn mehr als Barack Obama

(Foto: Foto: dpa)

Keine Demokratie der Welt erlaubt sich diese Freiheit. Keine Demokratie hat so viel Selbstbewusstsein, dass sie erbarmungslos nach vier oder acht Jahren nicht nur den mit unvergleichbarer Macht ausgestatteten Mann an der Spitze austauscht, sondern mit ihm Tausende Hintersassen aus den Höhenregionen der Führung.

Vor allem aber gibt es kein westliches System, das sich an einem einzigen Tag seiner unmittelbaren Vergangenheit entledigen und derart radikal der Zukunft zuwenden kann, ohne in Furcht vor den Ausschlägen der Gesellschaft, vor Instabilität oder vor ideologischen Attentätern zu erstarren.

Diese Radikalität ermöglicht den Aufbruch, birgt aber auch große Gefahren. Wo ein System einem einzigen Menschen derart viel Macht gibt, da liegen Exzess und Ausgleich nah beieinander. Die vergangenen sieben Jahre waren exzessiv. In ihnen beschnitt die Regierung von George W. Bush das Freiheitsversprechen der amerikanischen Verfassung - so wie das Schälmesser eines Holzfällers Schicht um Schicht des Stammes bloßlegen kann, bis nur noch wenige Jahresringe den Kern umgeben.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Amerika auf den Angriff auf seine Freiheit reagierte - und Präsident Bush seine Machtfülle ausnutzte.

Amerikas Traum

Warum das geschehen konnte? Zwei Motive haben die amerikanische Gesellschaft und die Politik getrieben: Zorn und Wahn. Zornig waren die USA, weil sie unvorbereitet die außergewöhnlichste Verletzung in ihrer Geschichte erleiden mussten - den Anschlag auf das Selbstbewusstsein, auf den Staat, auf die zu diesem Zeitpunkt uneingeschränkte Macht.

Die Regierung reagierte klassisch falsch: Sie schlug mit unangemessener Gewalt zurück, als könne sie damit verhindern, dass Amerika jemals wieder bloßgestellt werde. Wer die Macht herausforderte, der sollte die Macht kennenlernen. Amerika raste in den imperialen Wahn - einmal Hypermacht und zurück binnen weniger Jahre. Die Verblendung der Bush-Regierung ließ nur noch Feindschaft oder Gefolgschaft zu, Amerika traute nur sich selbst und vernachlässigte eine wichtige Gabe: das eigene Land durch die Augen der Welt zu sehen.

Die Nation schrumpft

Die Regierung Bush spürte viel zu spät, dass sie mit ihrem riesenhaften Gebaren das Land mutwillig schrumpfte. Die außenpolitische Selbstentmachtung ist das bemerkenswerte Ergebnis dieser Zeit, aber noch mehr beunruhigen die inneren Zerfleischungsprozesse, denen sich die amerikanische Gesellschaft in den letzten Jahren ausgesetzt hat.

Die USA sind eigentlich eine Nation, die Polarisierung nicht zu fürchten hat. Durch die schiere Größe dieser Kontinentalmacht verpuffen Spannungen in der Gesellschaft leichter als etwa in Europa. So relativiert sich die Kluft zwischen unermesslichem Reichtum und bitterer Armut, so ist Platz für Kreationisten und Darwinisten, hier können religiöse Extremisten frömmeln, während nebenan andere ihren Strohpuppen-Gott in der Wüste verbrennen. Das Land absorbiert gnädig die Auswüchse seiner Gesellschaft, erträgt Wahlkämpfe von vernichtender Härte, akzeptiert, dass Präsidenten Halbgötter sein können und im nächsten Moment nichts mehr als halbseidene Filous.

Mit dem Zorn und dem Wahn der Bush-Jahre aber litt die innere Toleranz. Amerika verlor Größe, weil es in zwei Gruppen zerfiel - alle paar Jahre abzulesen am Grenzverlauf zwischen dem blauen und dem roten Lager, den eine Kongresswahl auf der politischen Landkarte hinterlässt.

Amerika: Die einen hatten, die anderen hatten nicht; die einen mussten in den Krieg ziehen, die anderen fanden bessere Arbeit; die einen wurden vom Wirbelsturm hinweggefegt, die anderen konnten sich in Sicherheit bringen. Der gesellschaftliche Klebstoff haftete immer weniger, und was hätte diesen Zerfall mehr beschleunigen können, als die Zerstörung des wichtigsten amerikanischen Mythos überhaupt: des Traums vom besseren Leben.

Lesen Sie im letzten Teil, warum sich die Republikaner mit der Finanzkrise so schwer taten - und wie sie Obama in die Karten spielte.

Amerikas Traum

Was heute eine ökonomische Systemkrise ist, begann als Kreditproblem auf dem amerikanischen Immobilienmarkt - woran der amerikanische Immobilienbesitzer wenig Schuld trägt. Binnen Jahresfrist wird die Krise auch die Kreditkartenindustrie erfasst haben und den Markt für Leasingfahrzeuge.

Sie wird die Hoffnung aller Fondssparer zerstören, die Kinder zur Ausbildung auf eine teure Privatuniversität schicken zu können. Sie wird Pensionskassen leeren und Nottöpfe für die Gesundheitsfürsorge plündern. Sie wird, kurz gesagt, der breiten Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft die Hoffnung rauben.

Die Hoffnungs-Wahl

Im Gesellschaftsplan der Republikaner ist dieses Problem nicht vorgesehen. Dieser Gesellschaftsplan kennt vor allem das Individuum, die Selbstverantwortung, nicht die Fürsorge und die Kontrolle. Er lebt vom Wohlstandsversprechen, hat aber nichts zu verteilen außer einem niedrigen Steuersatz. Und deshalb schrumpfte unter der republikanischen Regierung Bush der Staat nicht nur in seinem außenpolitischen Machtanspruch, sondern verlor auch seine Überlegenheit im Inneren.

Wenn Amerika am Dienstag seine Stimme abgibt, dann will es im Gegenzug Hoffnung erhalten. Barack Obama verspricht seit einem Jahr change - den Wandel, die Wende, den Wechsel. Tatsächlich aber verkörpert er Hoffnung, weil er mit seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte dieses pathetische Versprechen vom amerikanischen Traum personifiziert.

John McCain, der ungeachtet einer Sarah Palin und der ideologischen Rechten im Kern ein klassischer Republikaner der Prä-Bush-Generation ist, dieser John McCain steht hingegen für ein statisches Amerika, das den Richtungswechsel scheut, das - eigentlich völlig unamerikanisch - die Neuerfindung fürchtet.

Die Amerikaner spüren, dass sie ihre Stimme in einem historischen Augenblick abgeben, sie wissen, dass sie nun einen Ausnahmepräsidenten brauchen. Das Land erleidet einen Machtverlust in der Welt, wie ihn kein Wähler zuvor erlebt hat. Die Gesellschaft ächzt unter dem schieren Existenzdruck. Die Ideologisierung über eine ganze politische Generation hinweg hat Gräben gerissen; der Wunsch nach Ausgleich wächst.

Der nächste Präsident wird deshalb eine einzigartige Chance ergreifen können. Selten zuvor war die Einsicht so verbreitet, dass sich Amerika zunächst mit sich selbst versöhnen muss, bevor es der Welt wieder als Vorbild dienen kann. Das erleichtert das Geschäft. Wirklich gewonnen haben wird der nächste Präsident aber erst dann, wenn er das Land hinter seiner Vision eines neuen Amerika versammelt hat.

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